Berlin: Gedenkdemonstration für die Opfer von Aghet

Aus Anlass des 106. Jahrestags des Genozids an den Armeniern und anderen Minderheiten im Osmanischen Reich hat am heutigen Völkermordgedenktag in Berlin eine Demonstration stattgefunden.

Anlässlich des 106. Jahrestags des Genozids an den Armenier*innen und Angehörigen anderer christlicher Minderheiten durch das jungtürkische Regime im Osmanischen Reich hat in Berlin eine Gedenkdemonstration stattgefunden. Die von Hay Stab Germany und European Ways e.V. initiierte Demonstration, die am frühen Nachmittag mit der Teilnahme von rund 300 Menschen vor der CDU-Zentrale in Tiergarten begann, führte bis zur türkischen Botschaft. Es beteiligten sich Angehörige der armenischen, ezidischen, aramäisch-assyrischen, kurdischen und griechischen Gemeinschaften – Gruppen also, die auch heute direkt vom türkischen Faschismus betroffen sind und sich dagegen widersetzen.

Nach einer von Celine Grigoryan und Mher Avetisyan gehaltenen Eröffnungsrede folgten kurze Beiträge über die historischen Ereignisse im Verlauf des Genozids, der am 24. April 1915 mit der Deportation der armenischen Elite aus der damaligen Reichshauptstadt Konstantinopel seinen symbolischen Auftakt machte. Zu Wort kamen unter anderem Amar Galasyan für die Ezid*innen und Hripsime Badalyan für die Armenier*innen. Die Berliner Philologin und Armenologin Tessa Hofmann,  Vorsitzende der Arbeitsgruppe „Anerkennung – Gegen Genozid, für Völkerverständigung", forderte die Türkei auf, den Völkermord von 1915 anzuerkennen und sich mit der eigenen Geschichte und Verantwortung auseinanderzusetzen.

Auch der Historiker und Journalist Nikolaus „Nick“ Brauns brachte sich mit einer Rede ein. Wir dokumentieren Brauns Beitrag im Wortlaut:

Ich verneige mich im ehrenden Gedenken an die Opfer des Aghet, des Sayfo, des Völkermordes an den Armeniern, Assyrern-Aramäern und Pontosgriechen von 1915/16. Wenn ich als Historiker über den Genozid an den Armeniern spreche, werde ich immer wieder von türkischen Nationalisten kritisiert. Es heißt dann, ich solle mich lieber mit den Verbrechen der deutschen Geschichte befassen. Genau das möchte ich tun! Denn der Völkermord im Osmanischen Reich ist auch Teil der deutschen Geschichte, er ist eines der großen Verbrechen des deutschen Imperialismus.

 

„Die Armenier werden … jetzt mehr oder weniger ausgerottet, das ist hart, aber nützlich“

Das deutsche Kaiserreich war der wichtigste Verbündete der Türkei. Erst der Kriegseintritt an der Seite Deutschlands ermöglichte es der jungtürkischen Führung, ihre völkermörderischen Pläne zur Schaffung eines türkisch-sunnitischen Staates umzusetzen. Deutsche Generäle an der Spitze der Osmanischen Armee empfahlen ihren türkischen Verbündeten die Deportation von Armeniern. In den Händen der Jungtürken wurde der nachfolgende Deportationsbefehl zum Vernichtungsinstrument. Den deutschen Militärs war das bewusst. Marineattaché Hans Humann vermerkte damals – ich zitiere - „Die Armenier werden … jetzt mehr oder weniger ausgerottet, das ist hart, aber nützlich“. Und der Chef der osmanischen Flotte, der deutsche Admiral Souchon, notierte in seinem Tagebuch,- ich zitiere - „für die Türkei würde es eine Erlösung sein, wenn sie den letzten Armenier umgebracht hat, sie würde dann die staatsfeindlichen Blutsauger los sein“. Deutsche Offiziere unterzeichneten Deportationsbefehle für Tausende beim Bau der Bagdadbahn eingesetzte armenische Arbeiter und ließen das armenische Viertel von Urfa beschießen. Reichskanzler von Bethmann Hollweg weigerte sich, gegen diese Massaker an der christlichen Bevölkerung zu protestieren mit der Begründung: „Unser einziges Ziel ist es, die Türkei bis zum Ende des Krieges an unserer Seite zu halten, gleichgültig ob darüber Armenier zugrunde gehen oder nicht.“

Die einzige Stimme, die sich im Deutschen Reichstag gegen das Abschlachten der Armenier erhoben hatte, war diejenige des Sozialisten Karl Liebknecht. Andere Abgeordnete brüllten Liebknecht nieder. Die SPD schloss ihn aus ihrer Fraktion aus. Als der Krieg für Deutschland verloren ging, verhalf das deutsche Militär den Hauptverantwortlichen für den Völkermord zur Flucht. Doch Talaat Pascha und andere Massenmörder wurden in Berlin von armenischen Rachekommandos aufgespürt und gerichtet. Diesen Helden der Operation Nemesis gebührt Hochachtung!

Es sollte ein Jahrhundert dauern, bis der Bundestag im Jahr 2016 den Völkermord an den Armeniern anerkannte. Doch beklagt wurde in der Resolution lediglich die unterlassene Hilfeleistung Deutschlands. Die aktive Beihilfe des deutschen Imperialismus zum Genozid wurde verschwiegen.

Profiteure der deutsch-türkischen Waffenbrüderschaft, wie die führend am Bau der Bagdadbahn beteiligte Deutsche Bank, sollten schließlich nicht mit Entschädigungsansprüchen konfrontiert werden. Denn an der deutschen Türkeipolitik hat sich in den letzten 100 Jahren nichts geändert. Weiterhin gilt es, die Türkei aus geopolitischen Interessen an der Seite Deutschlands zu halten – gleichgültig ob darüber Armenier oder heute Kurden zugrunde gehen.

Lasst uns gegen die Waffenbrüderschaft der herrschenden Klassen von Berlin über Ankara bis Baku die Geschwisterlichkeit der Völker setzen - die Einheit der Revolutionäre und Demokraten in der Türkei und Kurdistans, in Armenien und Arzach, in Rojava und Shingal - und auch hier in Deutschland! Zum Abschluss meiner Rede möchte ich euch die Kampfesgrüße der Berliner Plattform der Vereinigten Revolutionsbewegung der Völker HBDH und der Vereinigten Revolutionsbewegung der Frauen zu überbringen. Die HBDH vereint die kurdische Freiheitsbewegung und marxistisch-leninistische Revolutionäre aus der Türkei und Kurdistan zum gemeinsamen Kampf gegen das faschistische AKP-MHP-Regime. Und wir sind froh und stolz darauf, dass auch das armenische Märtyrer-Nubar-Ozanian-Bataillon in Rojava an der Seite dieser Freiheitsallianz steht. In diesem Sinne: Hoch die internationale Solidarität!

Grußwort der HDP

Von der Demokratischen Partei der Völker (HDP) gab es ein Grußwort. Darin hieß es: „Die Erinnerung an den Völkermord erfüllt uns mit großem Schmerz. Denn die christlichen Völker im Osmanischen Reich fielen nicht nur der wahnhaften Politik der Jungtürken zum Opfer, die einen ethnisch reinen türkisch-sunnitischen Nationalstaat errichten wollten. Möglich wurde dieses Menschheitsverbrechen auch, weil sich Teile der kurdischen Bevölkerung dazu missbrauchen ließen, ihre christlichen Nachbarn zu ermorden. Kurdische Banden überfielen die Deportationszüge, sie raubten den Elenden ihren letzten Besitz, sie verschleppten Frauen in die Sklaverei und ermordeten die Männer. Führende Politiker unsere Partei wie der frühere Abgeordnete und Bürgermeister von Mardin, Ahmet Türk, haben sich auch persönlich für diese Taten ihrer Vorfahren entschuldigt.

Nach der Ausrottung der christlichen Völker der Türkei waren die Kurden die nächsten, die der nun vom kemalistischen Regime fortgeführten Politik der ethnischen Homogenisierung zum Opfer fielen. Unzählige Kurden und Aleviten wurden seitdem abgeschlachtet, mit Giftgas ermordet, vertrieben. Ihre Sprache und ihre Kultur wurden verleugnet, verboten und unterdrückt. Bis heute wird diese Politik der Zwangsassimilation und des kulturellen Genozids mit aller Brutalität durch das faschistische AKP/MHP-Regime fortgesetzt.

Und bis heute gehört es zur türkischen Staatsräson, den Völkermord von 1915/16 zu leugnen. Denn die Türkische Republik hat ihre Wurzeln in diesem ungeheuren Verbrechen. Der armenische HDP-Abgeordnete Garo Paylan hat vor einem Jahr einen Antrag ins türkische Parlament eingebracht und gefordert, dass es einen parlamentarischen Untersuchungsausschuss zum Genozid geben soll. Paylan erklärte dazu: „Die Gerechtigkeit, auf die die Armenier seit über einem Jahrhundert warten, kann nur durch das türkische Parlament garantiert werden und durch das kollektive Bewusstsein der Bevölkerung der Türkei. Die Diskussion über den Genozid an den Armeniern, der immer wieder ignoriert und geleugnet wurde, ist entscheidend, um gesellschaftlichen Frieden in diesen Ländern zu etablieren und um die Wahrheit ans Licht zu bringen.

Uns ist bewusst, dass es bis dahin noch ein langer Weg sein wird. Doch unsere Vision bleibt die Vision einer demokratischen Nation aus allen Bevölkerungsgruppen der Türkei – aus Türken und Kurden, Armeniern und Assyrern-Aramäern, Arabern und Lasen. Aus Muslimen, Christen, Aleviten, Juden und Eziden. Wir wollen gleichberechtigt zusammenleben in einer demokratischen und föderativen Republik, die allen Bevölkerungsgruppen ihre Selbstbestimmung ermöglicht. Von dieser Vision werden wir uns weder durch Repression noch durch offenen Staatsterrorismus abbringen lassen."