Türkische Doppelstrategie und Haltung der kurdischen Freiheitsbewegung
Am 28. Dezember 2024 besuchten die DEM-Abgeordneten Pervin Buldan und Sırrı Süreyya Önder Abdullah Öcalan auf der Gefängnisinsel Imrali. Öcalan ist der wichtigste politische Gefangene der Türkei, wenn nicht der gesamten Region. Er ist der Gründer der Arbeiterpartei Kurdistans (PKK), der Vordenker des Gesellschaftskonzepts des Demokratischen Konföderalismus sowie für Millionen Kurdinnen und Kurden ihr politischer Repräsentant. Öcalan war in den letzten Jahren einer verschärften Isolation durch den türkischen Staat ausgesetzt.
Dass der türkische Staat nun plötzlich die Erlaubnis für einen Besuch der beiden Abgeordneten der DEM-Partei bei Öcalan auf Imrali erteilte, sorgte für große Spekulationen. Auch, weil Pervin Buldan und Sırrı Süreyya Önder anschließend positive Statements veröffentlichten und einen Gesprächsprozess mit Vertreter:innen der türkischen Parteienlandschaft starteten, weckte dies bei nicht wenigen Menschen die Hoffnung auf einen baldigen Friedensprozess.
Wäre da nicht die Realität südlich der türkischen Grenze, im Norden Syriens. Denn hier intensivieren die türkische Armee und mit ihr verbündete dschihadistische Gruppen der sogenannten Syrischen Nationalarmee (SNA) seit dem Sturz des Assad-Regimes ihre Angriffe auf die Demokratisch-Autonome Selbstverwaltung Nord- und Ostsyriens (DAANES). Seitdem erreichen uns Bilder und Berichte von schwerwiegenden Kriegsverbrechen. Auch die türkischen Drohnen- und Artillerieangriffe nehmen massiv zu und ein neuer Krieg um die symbolträchtige Stadt Kobanê scheint nur eine Frage der Zeit.
Wie passen diese beiden Entwicklungen zusammen? Warum intensiviert die Türkei ihre Kriegshandlungen in Kurdistan, während gleichzeitig mögliche Friedensgespräche im Raum stehen? Und was bezweckt Öcalan mit seiner Botschaft aus Imrali? In unserem aktuellen Civaka-Info Newsletter wollen wir uns auf die Suche nach Antworten auf diese Fragen begeben.
Ein Prozess mit offenem Ausgang
„Es ist ein Prozess. Selbstverständlich ist das für uns ein Prozess. Es ist noch kein abgeschlossener Prozess, noch sind nicht alle Fragen geklärt.“ - Mit diesen Worten umschreibt Zübeyir Aydar, Mitglied des Exekutivrats der Gemeinschaft der Gesellschaften Kurdistans (KCK), die aktuellen Gespräche zwischen Abdullah Öcalan, der DEM-Partei und möglicherweise auch dem türkischen Staat. Ein Prozess eben, nicht mehr. Von einer Lösung oder einem Frieden kann noch keine Rede sein, auch wenn sich mit diesem Prozess natürlich die Hoffnung auf ein Ende des Krieges und eine Lösung der kurdischen Frage verbindet.
Phasen wie diese gab es auch in der Vergangenheit, so der sogenannte „Oslo-Prozess“ zwischen 2009 und 2011 sowie die Gespräche zwischen dem türkischen Staat und Abdullah Öcalan zwischen 2013 und 2015. Auch damals gab es Hoffnung auf Frieden und auch damals hat der türkische Staat seine kriegerischen Handlungen in Kurdistan zu keinem Zeitpunkt eingestellt, während die Arbeiterpartei Kurdistans und ihr inhaftierter Vorsitzender Öcalan ihren Friedenswillen nachdrücklich unter Beweis gestellt haben.
Dasselbe Szenario wiederholt sich auch gegenwärtig: Während die Türkei die Übergangsphase in Syrien nutzt, um den Krieg gegen die DAANES in Nord- und Ostsyrien zu intensivieren, setzt sie innerhalb ihrer Staatsgrenzen weiterhin gewählte Bürgermeister:innen der DEM-Partei ab und führt ihre Repressionspolitik gegen die kurdische Gesellschaft fort.
Medial setzt die türkische Regierung aus AKP und MHP auf Methoden der psychologischen Kriegsführung. Mit manipulativen Äußerungen und Berichten wird der Eindruck erweckt, es gäbe keine kurdische Frage und lediglich die PKK sei das Problem. Parallel wird in Nordsyrien eine gezielte Kriegspolitik gegen die kurdische Bevölkerung geführt. Die jüngsten Angriffe auf Zivilist:innen, Pressevertreter:innen und kritische Infrastruktur in der Region sind Ausdruck dieser Politik. Gleichzeitig soll der Gesellschaft durch die Gespräche auf der Gefängnisinsel Imrali der Eindruck eines bevorstehenden Friedens vermittelt werden, um den gesellschaftlichen Protest gegen den türkischen Kriegskurs einzudämmen. In der kurdischen Bewegung sind die Erfahrungen der vergangenen Prozesse jedoch noch in guter Erinnerung, weshalb die Manipulationsversuche des türkischen Staates nur begrenzt erfolgreich sind.
Der türkische Staat sieht sich gezwungen, Öcalan als Ansprechpartner zu akzeptieren
Zweifellos gibt es aber auch Gründe dafür, dass der türkische Staat seine Politik der Totalisolation Abdullah Öcalans auf Imrali vorübergehend aufgeben musste. Wenn der Vorsitzende der rechtsextremen MHP, Devlet Bahçeli, eigens eine Rede des erklärten Staatsfeindes Nr. 1 im türkischen Parlament für möglich erklärt, dann ist das ein deutlicher Ausdruck dafür, wie sehr sich der Staat unter Druck gesetzt fühlt. Dies hängt eng mit den Entwicklungen im Nahen und Mittleren Osten zusammen. Die gesamte Region befindet sich in einem Umbruch, der die türkische Regierung beunruhigt. Die große Angst, die Ankara umtreibt, sind mögliche Errungenschaften der kurdischen Bevölkerung jenseits der eigenen Staatsgrenzen, die die monistische und nationalstaatliche Struktur der Türkei nachhaltig erschüttern könnten.
Dass der türkische Staat in dieser Phase Abdullah Öcalan aufsucht und als Gesprächspartner akzeptiert, ist jedoch in erster Linie auf den jahrelangen Widerstand der kurdischen Freiheitsbewegung gegen die türkische Kriegspolitik in Kurdistan zurückzuführen. An diesem Widerstand sind die Versuche des türkischen Staates in den letzten zehn Jahren gescheitert, die Arbeiterpartei Kurdistans durch völkerrechtswidrige Kriegshandlungen und den Einsatz international geächteter Waffen zu zerschlagen. Dies ist der Hauptgrund, der die AKP/MHP-Regierung heute dazu zwingt, diesen Prozess zu beginnen und in einen Dialog mit Öcalan einzutreten.
Die Botschaften Öcalans aus Imrali
Der seit 1999 inhaftierte kurdische Repräsentant bemüht sich von der Gefängnisinsel Imrali aus, aus der Notlage des türkischen Staates eine reale Chance für den Frieden zu machen und dabei möglichst breite Kreise der Gesellschaft in diesen Prozess einzubeziehen. Öcalan sieht das türkische Parlament als zentralen Ort für eine Lösung der kurdischen Frage. Er strebt eine Lösung im Einvernehmen mit der gesamten Gesellschaft der Türkei an, die nicht von außen aufgezwungen, sondern durch die Einbindung der inländischen Akteur:innen möglich gemacht werden soll. „Die Ereignisse in Gaza und in Syrien haben gezeigt, dass die Lösung dieses Problems, das durch Interventionen von außen verschlimmert wird, nicht länger aufgeschoben werden kann. Auch die Beiträge und Vorschläge der Opposition sind wertvoll, um einen Erfolg in einem Bemühen zu erzielen, das in direktem Verhältnis zur Schwere dieses Problems steht“, so Öcalan in seiner letzten Botschaft.
Die Delegation der DEM-Partei, die Öcalan Ende Dezember besuchte, hat einen Gesprächsmarathon mit verschiedenen politischen Akteur:innen in der Türkei gestartet, um diese von der Notwendigkeit eines wirklichen Friedensprozesses zu überzeugen. Die Verlautbarungen aus der DEM-Partei deuten darauf hin, dass diese Gespräche bislang konstruktiv verlaufen sind. Nun muss auch auf internationaler Ebene Druck auf die türkische Regierung ausgeübt werden, die Kriegshandlungen in Nordsyrien einzustellen und den Weg für einen echten Frieden mit der kurdischen Freiheitsbewegung zu ebnen. Auch hier gibt es zumindest erste zaghafte positive Verlautbarungen von Seiten westlicher Regierungen, die den Schutz der Kurd:innen in einem Syrien der Post-Assad-Ära fordern. Praktische Schritte sind diesen Verlautbarungen bisher noch nicht gefolgt. Eines ist jedoch klar: Alles andere als ein Frieden, der die Anerkennung der Selbstverwaltung Nord- und Ostsyriens einschließt, wird die gesamte Region auf unbestimmte Zeit in ein neues Chaos stürzen, mit unkalkulierbaren Folgen für die Region und - mit Blick auf ein mögliches Wiedererstarken des sogenannten Islamischen Staates - für die ganze Welt.
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