Ein „ungewöhnlich gerechtes Urteil“, kommentierte eine Rechtsanwältin die Entscheidung der Strafkammer des Landgerichts Istanbul, Teilnehmende einer Demonstration mit der Forderung an die Regierung, Gespräche mit Abdullah Öcalan zu führen, freizusprechen. Angeklagt in dem Prozess waren 25 Personen, denen wegen ihrer Beteiligung am „Sternmarsch auf Gemlik“ ein Verstoß gegen das türkische Versammlungs- und Demonstrationsgesetz Nr. 2911 vorgeworfen wurde. Die Demonstration war vom Landratsamt verboten worden. Zu Unrecht, wie das Gericht nun befand.
Um der Öffentlichkeit und politischen Führung der Türkei aufzuzeigen, dass Imrali die richtige Adresse für die Lösung der Probleme und Frieden ist, wollten linke und kurdische Parteien sowie NGOs im vergangenen Juni einen Sternmarsch nach Gemlik durchführen. Von der Hafenstadt in der Provinz Bursa verkehren Schiffe zur Gefängnisinsel Imrali, wo der kurdische Vordenker Abdullah Öcalan mit drei weiteren politischen Geiseln unter strikten Isolationsbedingungen festgehalten wird. Die an Ankara gerichtete Forderung: ein „demokratischer und zivilisierter Schritt“, um „die Mutter aller Probleme“, die kurdische Frage, im Dialog zu lösen und gesellschaftlichen Frieden zu erreichen. Unabdingbar dafür sei die Aufhebung der Isolation von Abdullah Öcalan und die Rückkehr an den Verhandlungstisch mit ihm.
Die Polizei war landesweit mit Großaufgeboten im Einsatz und verhinderte den Sternmarsch. In Istanbul gingen die Sicherheitskräfte besonders brutal vor und nahmen rund siebzig Personen gewaltsam fest – viele Betroffene beklagten sich später über fortgesetzte Misshandlungen auf dem Revier. Nach einer Nacht in Gewahrsam und einem anschließenden Verhör waren die meisten Festgenommenen wieder auf freien Fuß gesetzt worden – bis auf die 25 Personen, die nun auf der Anlagebank waren. Auf Antrag der Staatsanwaltschaft waren sie einem Haftrichter vorgeführt worden, der gegen 23 von ihnen polizeiliche Meldeauflagen verhängte.
Zwei Demonstranten sogar kurzzeitig in U-Haft
Im Fall von Koray Türkay, Umweltaktivist, Ko-Vorsitzender des HDP-Kreisverbands Kadıköy und Überlebender des IS-Anschlags von Pirsûs (tr. Suruç) vom 20. Juli 2015, sowie dem Aktivisten Ismail Temel von der Föderation der sozialistischen Jugendverbände (SGDF), befand das Gericht damals, dass Meldeauflagen als „Präventivmaßnahme“ nicht ausreichend seien. Sie kamen vorübergehend in Untersuchungshaft, weil sie besonders massiven Widerstand gegen die Staatsgewalt geleistet und „verbotene Parolen“ gerufen hätten. Türkay wurde darüber hinaus zum Vorwurf gemacht, den Einsatzleiter beleidigt zu haben. Zehn Tage später wurden er und Temel wieder aus der Haft entlassen.
Einwände der Behörden rein politischer Natur
Das Gesetz Nr. 2911 mit seinem restriktiven Charakter wird in der Türkei häufig willkürlich angewendet, um die Bevölkerung an der Ausübung ihres Rechts auf friedliche Versammlung zu hindern. Verstößte können nach türkischem Recht mit Geld- oder Haftstrafen in Höhe von bis zu drei Jahren geahndet werden. Doch Staaten haben die positive Verpflichtung, die Wahrnehmung des Rechts auf friedliche Versammlung in Gesetz und Praxis zu erleichtern. Auch nach türkischem Recht ist die Ausübung des Rechts auf Versammlungsfreiheit nicht an eine Genehmigung durch die Regierungsbehörden gebunden. Darauf verwies auch ein Sachverständigengutachten, das vom Landgericht für den Prozess eingeholt wurde. Darin heißt es, dass das behördlich ausgesprochene Verbot des Sternmarschs gegen Artikel 34 der Verfassung verstoßen habe, in dem es heißt: „Jedermann hat das Recht, ohne vorherige Erlaubnis an unbewaffneten und friedlichen Versammlungen und Demonstrationen teilzunehmen.“ Der Landrat aber habe die Demonstration bereits im Vorhinein verboten, ohne dass rechtliche Gründe dafür vorlagen. Die Behauptung, es habe eine „Gefahr für die öffentliche Sicherheit oder Ordnung“ bestanden, sei nicht nachgewiesen worden, und gegen Einwände, dass die Demonstration den Verkehr hätte aufhalten oder behindern können, spreche, dass es alternative Routen gab, diese den Organisierenden aber gar nicht erst angeboten wurden.
Geldstrafe gegen Koray Türkay
Eine Strafe gab es am Ende aber doch nicht. Koray Türkay erhielt eine sechsmonatige Freiheitsstrafe, die in eine Geldstrafe in Höhe von 3000 Lira (derzeit knapp 140 Euro) umgewandelt wurde. Dabei ging es um den Tatvorwurf „Widerstand gegen die Staatsgewalt“. Türkay soll Beamte daran gehindert haben, die Amtshandlung der Festnahme und seine Fixierung zu verwirklichen. Vom Vorwurf der Beamtenbeleidigung – Koray hatte dem Einsatzleiter vorgeworfen, sein Gewissen für einen minderwertigen Lohn „verkauft“ zu haben – wurde der Politiker freigesprochen. Das Gericht befand, dass er „maximal unhöflich“ gewesen sei, seine Worte aber nicht den Straftatbestand der Beleidigung erfüllten. Im Fall des Aktivisten Ismail Temel wurden weitere Tatvorwürfe gar nicht mehr erhoben. Zuletzt forderte selbst die Staatsanwaltschaft Freispruch für alle Angeklagten.