Vor dem 16. Schwurgerichtshof Ankara wurde heute im Strafvollzugskomplex Sincan der Prozess gegen Figen Yüksekdağ fortgesetzt. Auch nach dem mittlerweile 15. Verhandlungstag im Hauptverfahren gegen die ehemalige Ko-Vorsitzende der Demokratischen Partei der Völker (HDP) wurde der Haftbefehl gegen die 48-jährige Politikerin nicht aufgehoben. Das Gericht ordnete wie erwartet die Fortsetzung der Untersuchungshaft an und vertagte sich auf den 24. Dezember. In dem Prozess drohen der türkischen Politikerin 83 Jahre Freiheitsstrafe wegen Terrorvorwürfen.
Figen Yüksekdağ wurde im November 2016 zeitgleich mit Selahattin Demirtaş und zahlreichen weiteren Abgeordneten ihrer Partei festgenommen und anschließend inhaftiert. Die Anklage baut auf sieben Ermittlungsberichten auf, die dem türkischen Parlament während ihrer Zeit als Abgeordnete zur Aufhebung der Immunität vorgelegt worden waren. Der Politikerin wird unter anderem vorgeworfen, eine Terrororganisation gegründet und geleitet zu haben. Außerdem habe sie nach Ansicht der Staatsanwaltschaft „Propaganda“ für die Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) und „Separatismus“ betrieben. Der Staatsanwalt stützt sich bei den Vorwürfen gegen Yüksekdağ ausschließlich auf Reden und Aussagen in Interviews, die sie als parlamentarische Abgeordnete tätigte.
„Ich fordere keinen Freispruch”
Vor Gericht stellte Yüksekdağ heute erneut klar, dass sie keinen Freispruch fordert: „Das Problem der politischen Macht mit uns ist nicht von juristischer Natur. Vielmehr ist es eine Überlebensfrage, die allerdings nicht unser Leben betrifft, sondern das der Machthabenden.“ Weiter führte die Politikerin aus, dass es sich bei dem Verfahren gegen sie und ihre ehemaligen Fraktionskolleg*innen um einen politischen Prozess handelt, der von der Regierung gelenkt wird. Sie erwarte lediglich, dass die Wahrheit herauskommt: „Es ist unwichtig, ob ich verurteilt werde oder zweimal aufgrund desselben Vorwurfs Untersuchungshaft gegen mich angeordnet wird. Damit komme ich zurecht. Es geht einzig darum, dass die Fakten ans Licht gebracht werden“, so Yüksekdağ.
In der Anklage gegen Yüksekdağ geht es unter anderem um einen Aufruf zu den Kobanê-Protesten im Oktober 2014. Als es am Abend des 6. Oktober der Terrormiliz Islamischer Staat (IS) gelungen war, ins Stadtzentrum der nordsyrischen Stadt einzudringen, riefen die HDP und ihre damaligen Vorsitzenden angesichts der kritischen Situation in Kobanê die Bevölkerung Nordkurdistans und der Türkei zu einem unbefristeten Protest gegen die AKP auf, da die türkische Regierung ihre Unterstützung für den IS nicht beendete. Während den Protesten kam es in vielen Städten zu regelrechten Straßenschlachten zwischen Sicherheitskräften und Protestierenden: Soldaten, Polizisten, Dorfschützer sowie Mitglieder und Anhänger der radikalislamistischen Hizbullah (nicht zu verwechseln mit der Hisbollah) führten einen gemeinsamen Kampf gegen Kurd*innen, die sich an den Protesten gegen den IS beteiligten. Die Zahl der dabei getöteten Personen, bei denen es sich größtenteils um Teilnehmer*innen des Aufstands handelte, schwankt zwischen 46 und 53. Politiker aus dem Lager der AKP, allen voran Staatspräsident Erdoğan, greifen immer wieder auf die Behauptung zurück, Yüksekdağ, Demirtaş und die HDP seien für den Tod dieser Menschen verantwortlich, da sie es waren, die zu den Protesten aufgerufen hatten.
Zweiter Haftbefehl wegen desselben Vorwurfs
Vor einer Woche ordnete ein Gericht in Ankara schließlich erneut die Inhaftierung der beiden ehemaligen HDP-Vorsitzenden an. Zur Begründung teilte die Behörde mit, dass es neue Erkenntnisse gebe, welche die Ermittlungen gegen die Politiker*innen wegen des Vorwurfs der „Anstachelung zur Gewalt” im Rahmen der Kobanê-Proteste betreffen. Äußerungen des Regimechefs Erdoğan deuteten allerdings darauf hin, dass diese Entscheidung auf seine Anordnung gefällt wurde. Der Diktator hatte tags zuvor erklärt: „Wir können sie nicht freilassen. Die haben das Parlament infiltriert. Unsere Nation vergisst diejenigen nicht, die die Menschen auf die Straßen gerufen und dann in Diyarbakır 53 unserer Söhne ermordet haben. Wir werden sie bis zum Letzten verfolgen und niemals ablassen.“
Yüksekdağ erwiderte daraufhin auf die Gerichtsentscheidung ironisch auf Twitter: „Ich bin sehr aufgeregt, zum ersten Mal in meinem Leben wurde ich im gleichen Verfahren zweimal verhaftet. In diesem Land sind Premieren unser Schicksal.“ Vor Gericht äußerte sie sich heute ähnlich und erklärte, dass die türkische Justiz verpolitisiert sei und von einer anderen Staatsgewalt vereinnahmt wurde. Es sei beschämend, dass sich Richterinnen und Richter dagegen nicht zur Wehr setzten, so Yüksekdağ weiter.