Während in der Türkei und Nordkurdistan der Abbau von demokratischen Rechten, Menschenrechten und vor allem Frauenrechten immer drastischere Ausmaße annimmt, wollen die Regierungschefs der EU auf ihrem am Donnerstag stattfindenden EU-Ratstreffen über eine „positive Agenda“ in Sachen Türkei sprechen und einen Fahrplan für Visaerleichterungen und vieles mehr aufstellen. Treibendes Element hinter dieser Appeasementpolitik mit dem Diktator Recep Tayyip Erdoğan ist die Bundesregierung, die nicht nur aus historischen Gründen ein deutliches Interesse an guten Beziehungen zum Regime in der Türkei hat.
HRW: „Positive Agenda muss an Menschenrechte gebunden werden“
Die Menschenrechtsorganisation Human Rights Watch äußert im Vorfeld des EU-Gipfels scharfe Kritik. Die Staats- und Regierungschefs der EU sollten nicht zur Tagesordnung übergehen, „während die türkische Regierung ihre Angriffe auf Kritiker, die parlamentarische Demokratie und Frauenrechte eskaliert“, fordert HRW-Geschäftsführer Kenneth Roth. Eine positive Agenda müsse „an eine Beendigung der Angriffe auf die Opposition und eine messbare Verbesserung der Menschenrechtslage gebunden werden”.
„Erdoğan versucht, seine Macht unter Verletzung von Menschenrechten zu sichern“
„Präsident Erdoğan nimmt jede Institution oder jeden Teil der Gesellschaft ins Visier, die/der seinem weitreichenden Bestreben, die türkische Gesellschaft umzugestalten, im Wege steht“, so Kenneth Roth: „Bei den jüngsten Entwicklungen gegen die parlamentarische Opposition, die Kurden und die Frauen geht es darum, den Machterhalt des Präsidenten unter Verletzung von Menschenrechten und demokratischen Garantien zu sichern.“
„Erdoğan fördert homophoben politischen Diskurs“
Die Menschenrechtsorganisation konkretisiert: „Am 19. März 2021 erließ der Präsident ein Dekret, mit dem die Türkei plötzlich aus dem Übereinkommen des Europarats zur Verhütung und Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen und häuslicher Gewalt, bekannt als Istanbul-Konvention, austrat ‒ ein bahnbrechender Vertrag, der von der Frauenrechtsbewegung in der Türkei stark unterstützt wird.“
HRW beschreibt Erdoğans Rückzug aus der Konvention als „Teil der Bemühungen, Unterstützung aus religiös-konservativen Kreisen außerhalb seiner Partei zu gewinnen, und zeigt seine Bereitschaft, die Konvention als Mittel zu nutzen, um einen höchst spaltenden und homophoben politischen Diskurs zu fördern. Dieser verlogene Diskurs behauptet, dass Frauenrechte die sogenannten Familienwerte untergraben und fördert eine hasserfüllte und diskriminierende Sichtweise auf lesbische, schwule, bisexuelle und transsexuelle (LGBT) Menschen.“
„HDP-Schließung ist ein schwerer Angriff auf Meinungsfreiheit“
Zum drohenden HDP-Verbot erklärt die Organisation: „Der Chefankläger des obersten Berufungsgerichts der Türkei gab bekannt, dass er ein Verfahren zur Schließung der oppositionellen Demokratischen Volkspartei (HDP) eröffnete, nur Stunden nachdem das von Erdoğan kontrollierte Parlament einen HDP-Abgeordneten unrechtmäßig ausgeschlossen hatte. Die Einleitung eines Verfahrens zur Schließung einer politischen Partei, die bei den Parlamentswahlen 2018 landesweit 11,7 Prozent der Stimmen erhielt und 55 gewählte Abgeordnete hat, ist ein schwerer Angriff auf die Rechte auf politische Vereinigung und Meinungsäußerung. Dieser Schritt könnte fast sechs Millionen Wählern ihre gewählten Vertreter verweigern und damit ihr Wahlrecht verletzen."
„EU soll nicht so tun, als wäre alles beim Alten“
HRW erklärt an den EU-Gipfel gerichtet: „Die Staats- und Regierungschefs der EU sollten nicht so tun, als sei alles beim Alten, während die türkische Regierung ihre Angriffe auf Kritiker, die parlamentarische Demokratie und die Rechte der Frauen eskaliert.“
EU-Parlamentarier: „Ausblendung von Menschenrechten durch EU-Rat besorgniserregend“
Auch aus dem Europaparlament häufen sich die kritischen Stimmen. Führende Abgeordnete des Europaparlaments kritisieren die Türkei-Politik der EU scharf und fordern, dass Menschenrechte vor internationalen Interessen stehen müssten. In der vom ständigen Türkeiberichterstatter des EU-Parlaments, Nacho Sánchez Amor (S&D, Spanien) und dem Vorsitzenden der Türkeidelegation des Europaparlaments, Segey Lagodinsky (Greens/EFA, DE), unterzeichneten Erklärung heißt es: „Wir sind äußerst besorgt über die aktuelle Ausblendung der äußerst dringlichen Dimension der Menschenrechte und Rechtsstaatlichkeit auf der Tagesordnung des Rates, wenn es um die Beziehungen der EU zur Türkei geht. Im Vorfeld der bevorstehenden Tagung des Europäischen Rates möchten wir betonen, wie wichtig es ist, dass diese Dimension im Mittelpunkt der Bewertung unserer Politik gegenüber der Türkei steht, insbesondere im Hinblick auf die Eröffnung neuer Bereiche für eine positive Agenda.“
Die Parlamentarier sprechen von „ruchlosen Maßnahmen” des Regimes, die „schwere Auswirkungen auf die Menschenrechtslage und die Rechtstaatlichkeit in der Türkei“ haben würden. Sie führen aus: „Dazu gehörten der Austritt aus der Istanbul-Konvention, die alle Formen von Gewalt gegen Frauen bekämpfen soll, der Schritt zum Verbot der zweitgrößten Oppositionspartei HDP, eine neue Verurteilung ihres ehemaligen Ko-Vorsitzenden Selahattin Demirtaş unter eklatanter Missachtung von Urteilen des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte. Zudem wurde dem HDP-Abgeordneten Ömer Faruk Gergerlioğlu sein Parlamentssitz entzogen, und er wurde anschließend in den Räumlichkeiten des türkischen Parlaments verhaftet.“
„Menschenrechte spielten offenbar bei Treffen mit Erdoğan keine zentrale Rolle“
Die Abgeordneten zeigen sich erstaunt, dass „auf den Treffen der EU-Kommission und des Präsident des EU-Rats mit Präsident Erdoğan scheinbar Menschenrechte keine zentrale Rolle in der Diskussion gespielt haben“. Die Abgeordneten fordern: „Die Menschenrechte sollten ein Schlüsselelement bei der Formulierung zukünftiger Maßnahmen gegenüber der Türkei sein, ob positiv oder negativ.“
„Menschenrechte sind für die EU weniger relevant als geopolitische Interessen“
„Die Botschaft, die derzeit an die türkische Regierung gesendet wird, ist falsch und gefährlich“, warnen die Abgeordneten. Die Botschaft laute: „Menschenrechte und Rechtsstaatlichkeit sind für die EU weniger relevant als geopolitische Interessen. Diese Art der Kommunikation schadet der Glaubwürdigkeit und dem internationalen Image der EU ernsthaft und vermittelt dem großen Teil der pro-europäischen und pro-demokratischen Bürger der Türkei, die sich immer noch hoffnungsvoll der EU zuwenden, eine entmutigende Botschaft. Die in Artikel 21 des EU-Vertrags verankerte Pflicht, eine auf Grundsätzen und Werten beruhende Außenpolitik zu verteidigen und zu fördern, ist für alle EU-Institutionen und insbesondere für den Rat gleichermaßen verbindlich.“
„Menschenrechte nicht auf dem Altar der Realpolitik opfern“
Abschließend heißt es in dem Statement: „Wir unterstützen nachdrücklich alle Bemühungen, die auf eine Deeskalation der Spannungen im östlichen Mittelmeerraum und zwischen der EU, ihren Mitgliedsstaaten und der Türkei abzielen, da wir fest daran glauben, dass wir die bestmöglichen Beziehungen zur Türkei haben müssen. Allerdings, und insbesondere weil die Türkei nicht nur ein Drittland, sondern ein Beitrittskandidat zur EU ist, kann dies nicht um jeden Preis angestrebt werden. Menschenrechte und Rechtsstaatlichkeit dürfen nicht auf dem Altar der Realpolitik geopfert werden."
Statt um Menschenrechte geht es um neue Deals
Es ist wahrscheinlich, dass diese Appelle der Realpolitik geopfert werden. Statt Menschenrechte zu thematisieren, soll es anscheinend auf dem Treffen unter anderem um eine Neuauflage der EU-Türkei-Deals gehen, bei der sich das türkische Regime seine Rolle als Torhüter der Festung Europa mit Milliarden Euro und massiven politischen Zugeständnissen bezahlen lässt. So stehen erneut eine Zollunion und Visaerleichterungen auf der Agenda.