Erneut Haftentlassung von Kenan Ayaz beantragt

Die Verteidigerin von Kenan Ayaz hat im PKK-Prozess in Hamburg mit einem umfangreichen Antrag den politischen Charakter des Verfahrens und das Anklagekonstrukt der Bundesanwaltschaft verdeutlicht.

PKK-Prozess gegen Kenan Ayaz

Vor dem Oberlandesgericht Hamburg ist am Mittwoch der Prozess gegen den kurdischen Politiker Kenan Ayaz fortgesetzt worden. Nachdem Kenan Ayaz in der vergangenen Woche am 21. Prozesstag den zweiten Befangenheitsantrag gegen die Richterinnen gestellt hatte, war durch die Verteidigerin Antonia von der Behrens eine Reihe von Beweisanträgen vorgetragen worden, die sie jedoch aufgrund von Zeitmangel nicht zu Ende verlesen konnte. Am gestrigen Prozesstag konnte sie insgesamt 53 Anträge stellen, mit denen sie den politischen Charakter des Verfahrens und das Anklagekonstrukt der Bundesanwaltschaft angriff. Anschließend beantragte sie, Kenan Ayaz aus der Untersuchungshaft zu entlassen.

In dem umfangreichen und grundsätzlichen Antrag der Verteidigung, der in der Forderung auf Aufhebung der Untersuchungshaft von Kenan Ayaz mündete, wurde erneut thematisiert, dass es sich bei dem Verfahren um einen politischen Prozess handele, der maßgeblich im Interesse der Türkei geführt werde. Zum Nachweis des politischen Charakters forderte die Verteidigung die Zeugenbefragung des ehemaligen Generalbundesanwalts Peter Frank, um ihn zu befragen, ob der Haftbefehl gegen Kenan Ayaz aus politischer Opportunität beantragt und somit das Verfahren durch die Interessen der Türkei „kontaminiert“ worden sei.

Außerdem griff die Verteidigung in dem Antrag die Verfahrensführung durch das Hanseatische Oberlandesgericht an und kritisierte, dass das Gericht die Ermittlungsergebnisse der Polizei faktisch ungeprüft übernommen habe. Die Öffentlichkeit könnte die Darlegungen in dem Antrag nur zum Teil nachvollziehen, da er sich mit dem Teil der Beweisaufnahme auseinandersetzte, die hinter verschlossenen Türen im Selbstleseverfahren stattgefunden hatte. So bezog sich der Antrag insbesondere auf die vielen SMS und Telefongespräche, die alle im sogenannten Selbstleseverfahren eingeführt worden waren.

Die Verteidigung bezweifelte erneut, dass es sich bei der Identifizierung eines „Kenan“ tatsächlich um Kenan Ayaz handle, ebenso stellte sie in Frage, dass ein „Kader“ im Rang eines Regionalleiters seinen eigenen Vornamen als Decknamen verwende. Es gebe keinerlei Beweise für angeblich typische Gewohnheiten oder Aufgaben von Regions- oder Gebietsverantwortlichen wie Spendenüberwachung, Organisation von Demonstrationen vor Ort oder Übernachtung bei bekannten Aktivist:innen bzgl. des „Kenan“.

Tendenziöse Übersetzungen

Die Verteidigung beanstandete zudem, wie tendenziös die verschiedenen Übersetzer:innen gearbeitet hätten, beispielsweise sei das türkische Wort „arkadaş“ oder das kurdische „heval“ stets mit „Genosse“ übersetzt worden, statt mit Freund, obwohl es dann „yoldaş“ bzw. „reheval“ heißen müsste. So sei auch aus dem kurdischen Wort für Lachen (ken) die Abkürzung des Namens von Kenan gemacht worden, oder aus dem türkischen Wort für 1000 (bin) die Abkürzung des Namens Binevş. Oft wurden auch einfach ganze Wörter hinzugedichtet. Die Verteidigung stellte fest, dass der Übersetzer des LKA Bremen nicht unparteiisch übertragen, sondern die Kommunikation übersetzend im Sinne des Ermittlungszieles interpretiert hätte.

Geradezu lächerlich erscheint die Behauptung, die Teilnahme von Kenan Ayaz am Gründungskongress von KON-MED in Bergisch-Gladbach am 5. Mai 2019, die persönliche Teilnahme – und nicht die Organisation der Teilnahme von Dritten – am Dersim-Festival in Frankfurt am Main am 24.-25. Mai 2019 und an der Trauerfeier von Ugur Şakar am 26. März 2019 seien Beweise für eine Kadertätigkeit. An all diesen Veranstaltungen hatten eine sehr große Zahl von Kurden und Kurdinnen teilgenommen, ohne dass diese Kader gewesen seien.

Die Verteidigung beendete den Antrag mit der Forderung, dass ein Sachverständiger alles vorhandene Material unabhängig auch auf entlastende Umstände untersuchen müsse. In dem Antrag wurde ausgeführt, dass bisher die vielen SMS und Telefonate in diesem Verfahren gegen Kenan Ayaz und in anderen Verfahren nur daraufhin untersucht worden waren, ob etwas vermeintlich Belastendes gegen einen „Kenan“ gefunden werden konnte. Jetzt, so forderte die Verteidigung, müsste in allen diesen Akten nach entlastenden Umständen gesucht werden. Also nach Hinweisen, dass die Behauptung der Anklage, Kenan Ayaz sei ein Regionsverantwortlicher gewesen, nicht stimmt.

Schutz von Informanten des Geheimdienstes

Die Verteidigung stellte einen weiteren Antrag, mit dem sie die Geheimniskrämerei des Bundesamtes für Verfassungsschutzes angriff. Der Beamte W. des Bundesamtes für Verfassungsschutzes hatte bereits als Zeuge ausgesagt. Er hatte behauptet, dass Informanten des Bundesamtes für Verfassungsschutz Kenan Ayaz angeblich als Regionsverantwortlichen für Hamburg identifiziert hätten. Daraufhin stellte die Verteidigung den Antrag, diese Informanten als Zeugen bei Gericht zu hören. Dies wollte nun das Innenministerium nicht zulassen und verbot dem Informanten mit einer sogenannten Sperrerklärung als Zeuge auszusagen. Selbst wenn diese Personen audiovisuell an einem anderen Ort vernommen würden, wäre ihre Enttarnung möglich. Die Rolle dieser Informanten für den Verfassungsschutz wurde sehr hoch gehängt: Ihre Identifizierung würde „dem Wohl des Bundes oder eines Landes Nachteile bereiten“. Die Verteidigung forderte, das Gericht müsse gegen die Sperrung der Informanten vorgehen, und sie beantragte, dass es wenigstens möglich sein müsse, diese Informanten schriftlich zu befragen, um Kenan Ayaz verteidigen zu können.

Befangenheitsantrag abgelehnt

Schließlich teilte die Vorsitzende Richterin noch nebenbei mit, dass auch der zweite Befangenheitsantrag gegen die Richterinnen abgelehnt worden sei. Über diesen Antrag hatten andere Richter:innen des Oberlandesgerichts entschieden. Im Gegensatz zu der ersten Ablehnung las die Vorsitzende diesen Beschluss jedoch nicht vor.

Grund für den Befangenheitsantrag war gewesen, dass die Richterin Wende-Spohrs in der Gerichtsverhandlung am 12. März sowohl die Verteidigung als auch eine Prozessbeobachterin angeschrien hatte, weil diese sich über die schlechte Akustik im Saal 288 beschwert hatten. Die Verteidigerin solle „den Mund halten“ reichte offensichtlich nicht, um die Richterin als befangen zu erklären. Ein weiterer Grund für den Befangenheitsantrag war, dass Wende-Spohrs Kenan Ayaz das Wort entzogen hatte, als er sich kritisch mit dem Sachverständigen Seufert auseinandersetzte. Die Verteidigung thematisierte gestern erneut den Wortentzug und reichte eine Beschwerde gegen den Beschluss des Gerichts ein, Kenan Ayaz das Wort zu verbieten.

Gedenken an die Ermordung von Theophilos Georgiades in Zypern

An der gestrigen Hauptverhandlung nahm auch der zyprische Anwalt Sokratis Tzizas teil, der für den zyprischen Verteidiger von Kenan Ayaz, Efstathios C. Efstathiou, gekommen war.

Für die zyprischen Prozessbeteiligen und -beobachter:innen war der 20. März ein besonderer Tag des Gedenkens. Vor 30 Jahren war Theophilos Georgiades in Zypern ermordet worden. Georgiades war in der kurdischen Bewegung aktiv und sein Mord wurde mit großer Wahrscheinlichkeit im Auftrag des türkischen Geheimdienstes durchgeführt. Im Rahmen des Gedenkens wurde auch die Verfolgung von Kenan Ayaz und seine Auslieferung nach Deutschland mutmaßlich im türkischen Auftrag an thematisiert. Am Denkmal von Theophilos Georgiades wurde ein Kranz für Kenan Ayaz niedergelegt.