Gefängniswiderstand gegen Isolation
Am 4. April verkündeten in der Türkei inhaftierte Gefangene aus PKK- und PAJK-Verfahren das Ende ihres Hungerstreik und den Beginn einer neuen Widerstandsform. Aus Protest gegen die Isolation von Abdullah Öcalan auf Imrali boykottieren sie sämtliche Telefongespräche, Familien- und Anwaltsbesuche sowie Gerichtsverhandlungen. Der Abgeordnete der DEM-Partei, Serhat Eren, äußerte sich im ANF-Gespräch über die Bedeutung dieses Widerstands gegen die Isolation. Der Politiker sieht in der Isolation ein extralegales System, das alle Völker in der Türkei bedroht.
Eren unterstrich, dass die Isolation auf Imrali dem Völkerrecht widerspreche und der Rechtsbruch bereits mit der Entführung und Gefangennahme von Abdullah Öcalan angefangen habe. Die Isolation von Öcalan werde durch den Staat als wichtigstes Mittel zur Vernichtung des kurdischen Freiheitskampfes eingesetzt. Der Widerstand der Gefangenen und ihre Forderungen nach einem Ende der Isolation Öcalans seien vollkommen gerechtfertigt. Eren erklärte: „Dieser entschlossene Kampf der Gefangenen zeigt, dass das kurdische Volk in seinem Kampf und seinen Widerstand gegen alle Arten der Unterdrückung nicht aufgegeben hat. Für eine demokratische Lösung der kurdischen Frage ist es unumgänglich, zum Geist von Dolmabahçe zurückzukehren. Wie zu jeder Zeit stehen die politischen Gefangenen auch heute mutig für den Kampf um Freiheit ein, sie führen diesen Kampf an und geben der gesamten Gesellschaft ein Beispiel für eine friedliche Lösung der kurdischen Frage. Eine Lösung dieser Frage ist der einzige Weg zur Überwindung der vielfältigen Krisen.“
„Die Armut wird immer dramatischer“
Eren unterstrich, dass das Isolationssystem von Imrali Ausdruck der Verweigerung einer Lösung der kurdischen Frage sei und fuhr fort: „Die kurdische Frage wird, solange die Isolation andauert, ungelöst bleiben; die gesamte Politik des Staates wird durch Krieg geprägt sein und das Volk wird immer weiter verarmen, während einige ihren Reichtum vergrößern. Heute müssen sich sowohl die bürgerliche Mittelschicht als auch die verarmte Arbeiterklasse dieser Realität stellen. In einem Bericht, der 2022 vom Democratic Progress Institute mit Sitz in London erstellt wurde, wurde berechnet, dass die Türkei in den letzten 40 Jahren drei Billionen Dollar verloren hat, weil sie in der kurdischen Frage auf Kriegspolitik setzt. Im Jahr 2022, als der Bericht veröffentlicht wurde, lag das Nationaleinkommen der Türkei bei 905,5 Milliarden Dollar und das Pro-Kopf-Einkommen bei 10.659 Dollar. Die Kosten von drei Billionen Dollar sind kolossal und beinhalten nicht einmal das Jahr 2023. Drei Billionen Dollar sind eine so gewaltige Zahl, dass dieser Betrag auf der Grundlage der Daten von 2022 dem Nationaleinkommen der Türkei für etwa 3,5 Jahre entspricht.
„Mit diesen drei Billionen wäre vieles andere möglich gewesen“
Was hätte man mit den drei Billionen Dollar machen können, die durch das Beharren auf einer Kriegspolitik statt auf einer demokratischen und friedlichen Lösung der kurdischen Frage ausgegeben wurden? Alle der 16 Millionen Rentnerinnen und Rentner hätten nach dem heutigen Wechselkurs etwa 190 Tausend Dollar, also sechs Millionen Lira, erhalten können. Wären die drei Billionen Dollar, die für den Krieg ausgegeben wurden, unter den 85 Millionen Einwohnern der Türkei aufgeteilt worden, hätte jeder 35.295 Dollar, also 1.125.000 Lira, bekommen. Die Menschen in der Türkei müssen jetzt den Krieg und ihre Verweigerungshaltung gegenüber der Lösung der kurdischen Frage beenden. Dazu müssen alle laut klarstellen, dass die Isolation aufgehoben werden muss. Unser Aufruf an die Gesellschaft der Türkei lautet, dem kurdischen Volk in seinen demokratischen Forderungen beizustehen, ohne den Drohungen und Praktiken des Staates nach dem Motto ‚wer diesen Punkt berührt, wird verbrannt‘ nachzugeben. Wenn wir diesen Weg nicht gemeinsam gehen, kann kein Volk in der Türkei mit seiner eigenen Identität und seinem Glauben existieren, und keines unserer Rechte und Freiheiten kann garantiert werden.“
„Die Isolation stürzt das ganze Land in ein schwarzes Loch“
Eren betonte, wie wichtig es sei, gegen das Isolationssystem auf Imrali zu protestieren und den Widerstand der Gefangenen zu unterstützen: „In diesem Stadium ist ihre Entscheidung, nicht vor Gericht zu erscheinen, ein Widerstand gegen eine Justiz, die nicht unparteiisch und unabhängig ist. Alle Prozesse in der Türkei sind nur der Form nach Gerichtsverfahren. Das beste Beispiel dafür ist der Kobanê-Schauprozess. Zehntausende unserer Genossinnen und Genossen sind im Gefängnis und werden auf Befehl der Regierung als Geiseln gehalten. Die so genannte Rechtsgrundlage für die Isolation wird von einer Justiz geschaffen, die auf Anweisung arbeitet und zu einer politischen Behörde geworden ist. Herr Öcalan und seine Mitgefangenen werden durch ständige Disziplinarstrafen daran gehindert, Besuch von ihren Familien und Anwälten zu haben. Diese Entscheidungen werden nicht einmal ihren Anwälten mitgeteilt, die Berufungsmechanismen werden nicht ordnungsgemäß umgesetzt, und Beschwerden gegen die Richter und Staatsanwälte bleiben ergebnislos. Die Isolation ist ein System, in dem nicht einmal ein Fünkchen Recht steckt. Dieses schwarze Loch in der Gesetzgebung wächst allmählich und breitet sich aus, indem es in allen möglichen Situationen Ausnahmefälle zu ihrer willkürlichen Umsetzung schafft. In einer Gesellschaft, die sich an die Rechtlosigkeit gewöhnt hat, werden alle Verstöße zur Normalität. Alle Völker der Türkei fallen in das schwarze Loch der Isolation.“