Das große Erdbeben vom 6. Februar mit Epizentrum in Gurgum (tr. Kahramanmaraş) verursachte in der Türkei große Zerstörungen in zehn Provinzen mit einer Bevölkerung von 13,5 Millionen Menschen. An Orten mit vorwiegend alevitischer Bevölkerung sind die Erdbebenopfer einem Prozess der Zerstörung durch Menschenhand unter der Kontrolle des Staates und religiöser Orden ausgesetzt.
Cuma Erçe, der Vorsitzende des alevitischen Kulturvereins Pir Sultan Abdal, bestätigte, dass staatliche Institutionen in der kritischen Zeit der ersten Tage nach dem Erdbeben nicht vor Ort waren, um Such- und Rettungsmaßnahmen durchzuführen und Hilfe zu leisten. Sie seien erst Tage später in der Region eingetroffen und hätten zunächst in die zivilgesellschaftlichen Hilfsnetzwerke eingriffen. Das Konzept der Dienstleistung sei von ihnen kommerziell ausgerichtet worden: „Alevitische Organisationen haben von Anfang an viele Aufgaben des Staates wahrgenommen. Unser Kulturverein und ähnliche Organisationen haben die wesentlichen Aufgaben übernommen, die eigentlich der Staat hätte machen müssen. In den Medien wurde über die schrecklichen Szenen berichtet, die wir erlebten, als wir in die Region kamen. Als der Staat eintraf, mussten wir leider feststellen, dass die Organisationen die Spenden der Menschen verkauften. Zelte wurden verkauft, Blutspenden wurden verkauft."
Diskriminierung nach dem Erdbeben
Erçe bestätigte auch die Vorwürfe der konfessionellen Diskriminierung bei der Verteilung der Hilfsgüter an die Erdbebenopfer und sagte: „Wir haben mit eigenen Augen gesehen, dass es Diskriminierung bei der Verteilung der Hilfsgüter gab. Als wir in die Dörfer fuhren, haben wir versucht, unterschiedslos alle zu erreichen. Wir sagten nicht: ,Dies ist ein alevitisches Dorf, dies ist ein sunnitisches Dorf'. Wir sahen jedoch, dass die Behörden in der Region im Gegenteil mehr Hilfe an nicht-alevitische Dörfer lieferten und sich mehr Mühe gaben. Sie warfen Hilfsgüter aus Hubschraubern ab. Leider haben sie die alevitischen Dörfer nicht mit demselben Aufwand unterstützt."
Treuhänder für Hilfsgüter in alevitischem Gemeindehaus ernannt
Von zivilgesellschaftlichen Organisationen gesammelte Hilfsgüter seien an mehreren Stellen beschlagnahmt worden, sagte Erçe, so etwa im alevitischen Gemeindehaus (Cemevi) im Landkreis Markaz (Pazarcık): „Das Cemevi im Dorf Hasankoca wurde in ein Zentrum für die Verteilung von Hilfsgütern umgewandelt. Dort wurde eine Koordination eingerichtet. Ihr gehörten der CHP-Abgeordnete Orhan Sarıbal, der HDP-Abgeordnete Zeynel Özen, der Bürgermeister von Dersim, Mehmet Fatih Maçoğlu, die SDP, die EMEP, KESK-Komponenten und die SES an. Das Büro des Landrats beschlagnahmte die Materialien, die mit den gemeinsamen Bemühungen all dieser Organisationen gesammelt worden waren. Sie sagten, dass sie diese Arbeit selbst machen werden. Es wurde ein Treuhänder ernannt, aber nicht für das Cemevi, sondern für die Hilfsgüter."
Tätigkeiten islamischer Organisationen im Erdbebengebiet
Cuma Erçe machte außerdem auf die Tätigkeiten islamischer Organisationen in den für die Erdbebenopfer errichteten Zeltsiedlungen aufmerksam. Diese hätten ein gefährliches Ausmaß erreicht. Obwohl diese Tätigkeiten offen vor aller Augen durchgeführt werden, werde von offiziellen Institutionen und Organisationen nicht dagegen vorgegangen: „In der Presse war zu lesen, dass in der Zeltstadt, die in den ersten Tagen im Bezirk Nurdağı in Antep [ku. Dîlok] errichtet wurde, ein Schild für einen Korankurs für Kinder im Alter von vier bis sechs Jahren aufgehängt wurde. Sie tun dies, ohne sich zu verstecken oder zu verbergen. Es gibt Kinder, die verschwunden sind, Kinder, deren Eltern unter den Trümmern verschüttet wurden. Wir erhalten Nachrichten, dass diese Kinder in Wohnheimen von Sekten und der IHH untergebracht worden sind. In Adıyaman [ku. Semsûr] haben wir von unseren Freunden, die persönlich vor Ort waren, erfahren, dass der Menzil-Sekte Tausende von Zelten zur Verfügung gestellt wurden, dass Containersiedlungen errichtet wurden, dass Kinder, die ihre Verwandten verloren haben, an sie übergeben wurden und dass ihre Ausbildung von ihnen übernommen wurde. Wir haben Hunderte von Beschwerden aus verschiedenen Zeltstädten zu diesem Thema erhalten."
„Wir haben die vom Staat verursachte Lücke gefüllt“
Erçe betonte, dass die alevitischen Gemeindezentren viele Aktivitäten durchführen, die der Staat in der Region ohne jegliche Unterstützung durchführen sollte. Abschließend erklärte er: „Wir haben Tausende von Verstorbenen beerdigt. Sie wurden durch unsere Organisationen beerdigt. Das Innenministerium schickt uns über das Referat für Vereinigungen ständig Dankesbotschaften, weil diese Aufgabe eigentlich in seinen Zuständigkeitsbereich fällt. Der Staat treibt Steuern und Spenden ein und hat die Macht. Wir haben es nicht getan, um seine Arbeit zu erledigen, sondern um die vom Staat verursachte Lücke zu füllen."