Solidarität mit den Verurteilten im Kobanê-Verfahren
Das Kobanê-Verfahren gegen 108 kurdische Politiker:innen, unter ihnen die ehemaligen Ko-Vorsitzenden der HDP, Selahattin Demirtaş und Figen Yüksekdağ, endete mit den erwarteten Skandalurteilen. Demirtaş wurde in der Justizfarce zu 42 Jahren Haft verurteilt, Yüksekdağ erhielt eine Strafe von über 30 Jahren. Gegen viele weitere der Verurteilten ergingen hohe Haftstrafen. Gegenstand des Verfahrens war ein Aufruf der Politiker:innen zum Protest aufgrund der Belagerung von Kobanê durch den IS. Im ANF-Gespräch äußern sich die Anwält:innen Çiğdem Akbulut (Jurist:innenvereinigung ÇHD), Kemal Aytaş von den Mahnwachen für Gerechtigkeit und Sinan Zincir (Jurist:innenvereinigung ÖHD) zu den Urteilen.
„Diese Strafen werden den Kampf nicht zurückwerfen können“
Çiğdem Akbulut, Vorsitzende des ÇHD Istanbul
Die Vorsitzende des ÇHD Istanbul, Çiğdem Akbulut, betonte, dass das Urteil im Kobanê-Verfahren auf juristischer Ebene keiner Diskussion wert sei. Das Verfahren sei von Anfang an unter Missachtung jedes grundlegendsten Rechtsgrundsatzes geführt worden. Die Juristin fuhr fort: „Mit den Urteilen, die als Ergebnis dieses rechtswidrigen Verfahrens verhängt wurden, soll eine Botschaft vermittelt werden. Man will sagen, man werde den Kampf des kurdischen Volkes um seine Existenz ebenso wie die Politikerinnen und Politiker, die sich mit dem kurdischen Volk solidarisieren und Seite an Seite mit ihm kämpfen, angreifen und ihnen keinen Raum zum Atmen lassen. Aber weder die Angeklagten noch ihre Verteidigerinnen und Verteidiger haben sich von dieser eklatanten Rechtsbeugung einschüchtern lassen oder aufgegeben, woran sie glaubten. Deshalb werden all diese Gefängnisjahre den Kampf nicht zurückwerfen können. Das kurdische Volk ist in seinem Kampf um seine Existenz niemals allein. Wir werden diesen gerechten Kampf solidarisch weiterführen.“
„Richter sind zu Vollstreckungsbeamten geworden“
Kemal Aytaç von den Mahnwachen für Gerechtigkeit
Der Anwalt Kemal Aytaç von den Mahnwachen für Gerechtigkeit betonte, die Urteile im Kobanê-Verfahren seien rein politisch. Es habe sich erneut gezeigt, dass die Justiz unter dem Befehl der Politik stehe. Aytaç kam zu der treffenden Feststellung: „Die Staatsanwälte sind zu Fußsoldaten und die Richter zu Vollstreckungsbeamten geworden.“ Weiter erklärte Aytaç: „Juristisch gibt es an diesem Verfahren nichts zu diskutieren. Es gibt keine Beweise dafür, dass überhaupt ein Verbrechen begangen worden ist. Die Politikerinnen und Politiker haben sich geäußert, und es ist nicht möglich, aus ihren Worten einen Straftatbestand abzuleiten. Gegen sie sollte nicht einmal ermittelt werden. Es handelt sich also um rein politisch motivierte Urteile, die in sich selbst viele Widersprüche enthalten. Wenn man sich die Urteile anschaut, so wurden einige Personen freigesprochen, während andere zu neun, 15 oder 27 Jahren Gefängnis verurteilt werden. Mit diesen Urteilen wird versucht, dem kurdischen Volk und der kurdischen Bewegung, die in der Öffentlichkeit kämpft, einen Schlag zu versetzen. Gleichzeitig wird eine Botschaft an die Opposition gesendet: ‚Wenn ihr zu viel Krach schlagt, wenn ihr auf die Straße geht, wenn ihr ernsthaften Widerstand leistet, werden wir euch ins Gefängnis stecken und bestrafen.‘ Mit diesem Prozess soll der Gesellschaft Angst eingeflößt werden.“
„Diese Urteile können den Kampf des kurdischen Volkes nicht löschen“
Aytaç wies darauf hin, dass die Urteile gegen oppositionelle Politiker:innen in eine Zeit fallen, in der die Putschisten vom 28. Februar 1997 freigelassen werden: „Es ist wie Zuckerbrot und Peitsche. Während auf der einen Seite die Putschisten vom 28. Februar begrüßt werden, wird auf der anderen Seite versucht, die kurdische Bewegung mit den gegen sie verhängten Strafen zu treffen. Von einer Liberalisierung kann hier nicht die Rede sein, im Gegenteil, es wird versucht, das Volk und seine Vertreterinnen und Vertreter einzuschüchtern. Seit Jahren greift die Regierung den Kampf des kurdischen Volkes und der kurdischen Freiheitsbewegung an. Diese Urteile sind eine Fortsetzung davon. Aber der Kampf des kurdischen Volkes dauert schon seit Jahren an. Man kann das kurdische Volk und seinen Kampf nicht mit solchen Urteilen auslöschen. Die kurdische Frage kann nur mit demokratischen und friedlichen Mitteln gelöst werden. Man kann den Frieden in diesem Land nicht erreichen, indem man die Vertreter:innen des kurdischen Volkes verurteilt. Wenn Frieden geschaffen werden soll, muss dieses Problem auf demokratischem Wege und durch Verhandlungen gelöst werden.“
„Sie haben gut von ihren gülenistischen Lehrern gelernt“
Sinan Zincir, Juristenvereinigung ÖHD
Sinan Zincir von der Juristenvereinigung ÖHD sieht in den Urteilen einen schweren Schlag für die Hoffnung auf Frieden. Der Anwalt hatte zuvor bereits das KCK-Verfahren verfolgt und betrachtet diese Prozesse, das Kobanê-Verfahren eingeschlossen, als einen Versuch, die demokratische Führung des kurdischen Volkes zu liquidieren. Das KCK-Verfahren war damals von mittlerweile in Ungnade gefallenen Kadern der Gülen-Sekte im Staatsapparat geführt worden. Zincir erklärte: „Gestern waren es die Richter und Staatsanwälte der Sekte, heute sind es die Staatsanwälte, Richter und Staatsanwälte des AKP/MHP/Ergenekon-Blocks. Das gleiche System setzt sich fort. Außerdem sind es die sogenannten Richter und Staatsanwälte der Gülen-Verbrecherbande, die alle Ermittlungsverfahren des Kobanê-Prozesses vorbereitet haben. Dem Verfahren liegt dieselbe Fiktion, dieselbe Methode zugrunde. Während viele Verfahren, die von der gülenistischen Justiz insbesondere in Bezug auf Ergenekon geführt wurden, schließlich mit Freispruch endeten, werden, wenn es um Kurden und Revolutionäre geht, gefälschte Beweise und Ermittlungen als gültig angesehen.“
Er unterstrich, dass das Regime so Rache am kurdischen Volk und allen Menschen, die mit ihm solidarisch sind, nehmen wolle. Zincir weiter: „Einerseits wird durch die Urteile gegen Selahattin Demirtaş und Figen Yüksekdağ versucht, dem kurdischen Volk das Recht auf demokratische Politik und Frieden zu nehmen, und andererseits sollen Sozialisten und Revolutionäre, die in Rojava, Kobanê und in der Türkei solidarisch an der Seite des kurdischen Volkes stehen, eingeschüchtert werden. Es handelte sich um eine Anklage auf Bestellung, ein Schlussplädoyer auf Bestellung und eine Entscheidung, die von Personen, die ich nicht als Richter oder Staatsanwälte, sondern als Beamte unter dem Befehl des Palastes bezeichnen möchte, gefällt wurde.“
„Man will sich an unseren Freund:innen für ihre aufrechte Haltung rächen“
Zincir schloss mit den Worten: „Weil die Vorreiterinnen und Vorreiter des kurdischen Volkes im politisch-demokratischen Bereich ihre Würde bewahrten, Widerstand geleistet haben, sich nicht beugten und den Faschismus herausforderten, versucht man sich nun an ihnen zu rächen. Aber es ist so, wie unsere Vorsitzende Figen gesagt hat: das letzte Wort haben diejenigen, die Widerstand leisten, das letzte Wort wird vom kurdischen Volk, von den Revolutionär:innen, den Sozialist:innen gesprochen. Wir sind nicht pessimistisch, die Zukunft gehört uns.“