Deutscher bei Drohnenangriff auf Friedenswache verletzt
Die Türkei greift immer wieder Ziele im Gebiet der Demokratischen Selbstverwaltung von Nord- und Ostsyrien (DAANES) an. Bei Drohnenangriffen auf eine Friedenswache an der Tişrîn-Talsperre hat die türkische Armee in den vergangenen Wochen 22 Menschen getötet und mehr als 200 verletzt. Auch der Brandenburger Jakob Rihn befindet sich unter ihnen. Der 25-Jährige ist Physiotherapeut und unterstützt seit zwei Jahren als humanitärer Helfer das Gesundheitskomitee der Selbstverwaltung. Am 18. Januar erlitt er Splitterverletzungen im Zuge eines sogenannten Double-Tab-Angriffs einer türkischen Drohne und musste operiert werden.
Wie geht es Ihnen mittlerweile seit der Verletzung?
Entsprechend der Situation geht es mir gut. Meine Wunden verheilen allmählich. Insbesondere meinem Bein geht es besser, sodass ich wieder laufen kann. Sechs Tage nach dem Angriff konnte auch endlich eine dringende Operation durchgeführt werden, bei der ein Splitter aus meinem linken Auge entfernt wurde. Diese Operation hätte aus medizinischer Perspektive eigentlich sofort stattfinden müssen. Ich wurde am 18. Januar bei der Friedenswache am Tişrîn-Staudamm durch einen türkischen Luftangriff verletzt, wie viele weitere Teilnehmende auch. Erst drei Tage später konnte ich den Damm verlassen, denn die Krankenwagen, die Verwundete in Krankenhäuser bringen wollten, wurden ebenfalls von Drohnen bombardiert. Hinzu kam dann, dass die notwendigen Behandlungsmöglichkeiten für diese Augen-OP in Nord- und Ostsyrien nicht gegeben sind, sodass ich nach Hewlêr (Erbil) in die Kurdistan-Region des Irak gebracht werden musste.
Dies zeigte mir noch einmal sehr deutlich, welchen enormen Herausforderungen diese Region sich gegenübersieht.
Warum ist die Verteidigung des Staudamms so wichtig?
Es gibt mehrere Faktoren, die die Verteidigung des Tişrîn-Damms für die Bevölkerung in Nord- und Ostsyrien so wichtig machen. Die Region gehört zu den fruchtbarsten Gebieten des ganzen Landes, sie wird auch die Kornkammer von Syrien genannt. Vor allem aber sichert der Staudamm die Strom- und Wasserversorgung für ein riesiges Gebiet. Er ist bereits seit dem 10. Dezember aufgrund der türkischen Angriffe außer Betrieb und seitdem ist beispielsweise die Stadt Kobanê ohne Strom und ohne Wasser. Es geht hier wirklich ganz existenziell um die Lebensgrundlage der Menschen, und das ist einer der wichtigen Gründe, warum sie den Damm verteidigen. Da die Auswirkungen der Angriffe sehr weitreichend sind, kommen die Menschen aus allen möglichen Regionen, um sich an der Verteidigung zu beteiligen.
Ein weiterer sehr wichtiger Punkt ist, dass der Tişrîn-Staudamm eine strategisch wichtige Lage hat: Er bietet einen Übergang über den Euphrat auf der Linie zwischen der jetzigen Position der Türkei-geleiteten SNA-Milizen und der Stadt Kobanê. Er muss also eingenommen werden, wenn die Türkei Kobanê angreifen will. Man kann daher sagen, dass aktuell am Tişrîn-Staudamm auch die symbolträchtige Stadt Kobanê und im Endeffekt ganz Nord- und Ostsyrien geschützt werden.
Die Menschen vor Ort verteidigen dabei nicht ausschließlich im materiellen Sinne das Land, sondern auch die Idee und den Aufbau eines demokratischen Zusammenlebens, eines mehrsprachigen Systems, in dem unterschiedliche Religionen gemeinsam leben.
Welche Konsequenzen hätte die Zerstörung des Staudamms?
Sollte der Staudamm durch das türkische Bombardement brechen, könnte schlimmstenfalls eine Art Kettenreaktion ausgelöst werden, bei der die Staudämme flussabwärts am Euphrat, wie beispielsweise in Tabqa, beschädigt oder zerstört würden. Die Auswirkungen könnten somit bis in den Irak reichen.
Konkret würde eine Zerstörung auf jeden Fall zu einer erneuten Massenflucht führen. Insbesondere seit ich in Nord- und Ostsyrien bin, habe ich vermehrt mit Geflüchteten zusammengearbeitet. Erst vor kurzem kamen Geflüchtete aus dem Libanon oder zuletzt aus Aleppo und der Şehba-Region dort an. Wenn dieser Staudamm bricht, würde erneut eine immense Zahl an Menschen vertrieben werden und riesige Flächen des Landes wären unbewohnbar.
Wie ist die Stimmung innerhalb der Friedenswache?
Die Stimmung der Friedenswache ist schwer zu beschreiben, es ist ein Gefühl, das ich vorher noch nie empfunden hatte. Es herrscht eine enorme Entschlossenheit vor und eine Angst, sich ausschließlich mit dem eigenen Körper und der eigenen Stimme gegen die allerschwersten Kriegswaffen zu stellen. Die Menschen stehen selbstbewusst auf diesem Staudamm und ringsherum schlagen Bomben ein, aber sie lassen sich nicht einschüchtern.
Tiefer Schmerz, Freude und Entschlossenheit sind nah beieinander. Natürlich sind die Menschen wütend und traurig, dass ihre Verwandten neben ihnen sterben oder verwundet werden. Gleichzeitig sagen sie: „Wir werden dafür sorgen, dass ihr euer Leben nicht umsonst gegeben habt. Wir werden euren Kampf weiterführen.“ Das ist eine Stimmung, die man nicht so einfach beschreiben kann. Menschen aus allen Städten der Region protestieren dort gemeinsam und bilden in ihrer Vielfalt eine Einheit. Sie versuchen, diese Angriffe zu stoppen und bringen dafür große Opfer. Soweit ich weiß, sind mittlerweile über 20 Menschen bei den Angriffen auf den Staudamm ums Leben gekommen und an die 100 verletzt [Anm. Red.: Die Zahl der Verletzten ist mit Stand vom 26. Januar auf 217 gestiegen].
Welche Botschaft wollen Sie an die internationale Gemeinschaft senden?
Es muss so schnell wie möglich gehandelt werden. Sicher gibt es schon viele diplomatische Gespräche, aber die reichen nicht aus, wenn die internationale Anti-IS-Koalition nicht sofort eine Flugverbotszone einrichtet. Außerdem müssen Hilfskorridore über die Landesgrenzen geöffnet werden, um die humanitäre und medizinische Versorgung vor Ort sicherzustellen. Das sind die allerwichtigsten Sofortmaßnahmen.
Weiterhin muss die Demokratischen Selbstverwaltung von Nord- und Ostsyrien anerkannt werden, um die Versorgung der Menschen langfristig gewährleisten zu können.
Foto von Jakob Rihn © privat