„Die kurdische Frage wird instrumentalisiert“

In der Türkei sind im vergangenen Jahr neue politische Parteien entstanden. Viele der Akteure beginnen ihren politischen Werbefeldzug in Nordkurdistan. Die HDP-Politikerin Meral Danış Beştaş spricht von einer Instrumentalisierung der kurdischen Frage.

In der Türkei sind im vergangenen Jahr viele neue politische Parteien und Bewegungen entstanden. Viele der Akteure beginnen ihren politischen Werbefeldzug in Nordkurdistan oder sprechen von den Kurden. Der ehemalige AKP-Politiker und Ministerpräsident Ahmet Davutoğlu, Muharrem Ince (CHP) und Mustafa Sarıgül (DSP) sind nur einige davon. Nach Meinung der stellvertretenden HDP-Fraktionsvorsitzenden Meral Danış Beştaş wissen alle, die in der Türkei einen Schritt in die Politik setzen, dass es sich bei der kurdischen Frage um das zentrale Problem im Land handelt. Die HDP-Politikerin betont jedoch, dass das Thema als Mittel zum Zweck benutzt und eine Lösung dadurch in noch weitere Ferne gerückt wird. Wir haben mit Meral Danış Beştaş in Istanbul über dieses Phänomen und mögliche Lösungswege in der kurdischen Frage gesprochen.

Viele politische Akteure, die eine neue politische Bewegung oder Partei in der Türkei gründen wollen, sprechen als erstes die Kurden an. Was ist der Grund dafür?

Diese Angelegenheit hat mehrere Dimensionen. Eine davon betrifft die Ansicht, dass es sich bei den Kurden um eine Bevölkerungsgruppe handelt, die einfach zu überzeugen und hinters Licht zu führen ist. Es geht also nicht darum, dass die kurdischen Forderungen und der Kampf der Kurden berücksichtigt werden. Das kurdische Volk wird seit hundert Jahren diskriminiert und lebt nicht unter gleichberechtigten Bedingungen. Es darf seine eigene Sprache nicht sprechen und gehört zu den ärmsten Teilen der Bevölkerung. Es wird jedoch nicht diese Ausgrenzung berücksichtigt, vielmehr wird den Kurden eine Art Naivität angedichtet. Dabei handelt es sich um ein Anzeichen für den im Unterbewusstsein existierenden Faschismus. In den sozialen Medien hat ein Video von einem kleinen Jungen aus Diyabakir [kurd. Amed] die Runde gemacht, der einem von außerhalb kommenden Mann etwas zu essen gekauft hat. Das Video hat viele Reaktionen hervorgerufen, weil der Junge als besonders guter Mensch dargestellt wurde. Es geht dabei jedoch nicht um das eigentliche Problem, um die eigentliche Angelegenheit wird herumgeredet.

Man kann also sagen, dass der eigentliche Fokus verlagert wird?

Ja, auf jeden Fall. Beispielsweise heißt es, dass Mustafa Sarıgül eine Partei gründen und seinen ersten öffentlichen Auftritt in Şırnak [Şirnex] machen will. Auch Muharrem Ince hat nach all dieser Zeit daran erinnert, dass den Kurden nicht gedankt worden ist. Warum hat er früher nie davon gesprochen? Warum fällt ihm das erst ein, wenn er eine neue Bewegung starten will? Diese Frage stellt sich sowohl uns als auch der Bevölkerung. Denn es geht dabei nicht um die Forderungen der Kurden und eine Lösung, sondern um eine Instrumentalisierung dieses Themas. Es wird für die eigene Politik benutzt.

Aber all diese Initiativen, die Besuche in Şırnak und Diyarbakır, oder die Verwendung eines kurdischen Begriffs, zeigen uns, dass die kurdische Frage das wesentliche Problem in der Türkei ist und alle Politiker das wissen. Es ist allen bewusst, die in der Türkei in die Politik einsteigen und eine Partei gründen oder in einer Partei als Abgeordneter oder auf lokaler Ebene aktiv sind. Natürlich wissen es auch Davutoğlu, Sarıgül und Ince. Das ist die positive Seite der Angelegenheit. Es gibt hier ein Problem, das gelöst werden muss, wenn man eine neue politische Bewegung starten will. Der eigentliche Knackpunkt ist jedoch eine Lösung und nicht ein Besuch.

Sie sagen, dass diese Parteien die kurdische Frage instrumentalisieren?

Wir würden uns einen Umgang wünschen, der den Fokus darauf richtet, das Problem mit seinen Ansprechpartnern und der Bevölkerung zu lösen. Bei dieser Frage haben wir als HDP keine Komplexe. Wenn eine Haltung gezeigt wird, die statt Krieg auf Frieden setzt und eine wirkliche Lösung anvisiert, sind wir selbstverständlich zur Unterstützung bereit.

Wie könnte eine solche Lösung aussehen? Was müsste zuerst getan werden?

Was getan werden müsste, ist eigentlich klar. In der Türkei leben 83 Millionen Menschen und ein Viertel davon sind Kurden. Es herrscht seit vierzig Jahren Krieg und es haben in der gesamten Geschichte der Republik Massaker stattgefunden. Dörfer wurden entvölkert und es hat extralegale Hinrichtungen gegeben. Vor den verschiedenen Gerichten ist eine Politik der Verleugnung angewandt worden. In dieser Politik hat es Hochs und Tiefs gegeben, beispielsweise zu Zeiten von Demirel oder bei der Ansage von Mesut Yılmaz, dass der Weg in die EU über Diyarbakır führt. Sogar Tansu Çiller und viele weitere Ministerpräsidenten vor ihr haben über diese Angelegenheit gesprochen. Dabei ging es jedoch immer darum, die Frage für die eigene Politik zu benutzen. Am ernsthaftesten wurde ein Lösungswillen in der Zeit zwischen 2013 und 2015 gezeigt. Es wurde eine Delegation für Gespräche mit Abdullah Öcalan auf Imralı gebildet, die im Wissen und auf Wunsch des Staates stattfanden. Es wurde laut über eine Entwaffnung gesprochen. Vor allem gab es in dieser Zeit einen direkten Ansprechpartner.

Wenn die HDP für eine Lösung auf Imralı verweist, hagelt es von verschiedenen Seiten Kritik. Es heißt, dass die HDP damit kriminalisiert wird. Was sagen Sie dazu?

Die HDP ist eine politische Partei. Wir befinden uns zwischen dem Parlament und der Gesellschaft, um zu einer demokratischen, friedlichen und selbstverständlich würdevollen Lösung der kurdischen Frage beizutragen. Für eine solche Lösung setzen wir uns ohne Wenn und Aber ein. Als HDP verteidigen wir die Freiheiten und Rechte aller Individuen und dabei sind die Kurden eingeschlossen. Es gibt jedoch einen Punkt, der sich außerhalb unseres Willens befindet: Waffen. Wir sind keine bewaffnete Organisation. Heutzutage ist kein Frieden ohne PKK und KCK möglich. Das ist ganz objektiv so. Überall auf der Welt werden Friedensprozesse über politische Parteien geführt, aber es findet auch eine Kommunikation mit den bewaffneten Organisationen statt. In der Türkei ist Abdullah Öcalan der Ansprechpartner. Dieser Ansprechpartner, der Frieden stiften könnte, wird jedoch vollständig isoliert. Es handelt sich um einen Menschen, der sich seit 1999 in allen Gesprächen darum bemüht, zu Frieden, Dialog und Lösung beizutragen und für ein Zusammenleben der Völker einzutreten. Beim letzten Gespräch hat er sogar gesagt, dass er das Problem innerhalb einer Woche lösen könne. Dabei handelt es sich eigentlich um einen offenen Scheck, aber darüber wird nicht gesprochen. Das gilt vielleicht nicht für alle Parteien, aber die allgemeine Tendenz ist darauf ausgerichtet, diese Seite zu vernachlässigen und über Isolation und Vernichtung zu lösen. Wir sehen jedoch seit Jahren, dass sich das Problem mit einer solchen Politik nicht lösen lässt. Im Gegenteil, sie vertieft das Problem nur. Das kurdische Volk lebt heute in allen Gegenden in der Türkei, in Istanbul, Adana, Izmir. Wenn sich das Problem vertieft, betrifft es natürlich zunächst vor allem die Kurden, aber eigentlich ist die gesamte Türkei betroffen.

Erdoğan hat vor kurzem auf Kritik an der Wirtschaftskrise mit den Worten reagiert: Krieg ist nicht kostenlos. Er selbst hat das Kriegsbudget als einen der Hauptgründe für die Wirtschaftskrise benannt. Das Problem betrifft also nicht nur die Kurden, sondern alle Bevölkerungsgruppen. Solange also die politischen Akteure nicht den wirklichen Ansprechpartner benennen, führen zwar alle Wege in die kurdischen Regionen, aber das Problem wird dadurch nicht gelöst.