Die kapitalistische Herrschaftsordnung durchbrechen

Höchstens 15 Prozent der Arbeiter:innen in der Türkei sind gewerkschaftlich organisiert, die übrigen leben in extremer Unsicherheit. Die sozialistische Bewegung hat jedoch Schwierigkeiten, die notwendigen Fragen zur Lage zu beantworten.

Es regt sich Widerstand

Die Armut in der Türkei vertieft sich jeden Tag immer weiter. Die Inflation ist weiterhin hoch und Menschen sterben mittlerweile an Hunger. Zwei Drittel aller Kinder können nicht ausreichend ernährt werden.

Arbeitslosigkeit und Billiglohnarbeit brechen mit jeder neu veröffentlichten Statistik einen weiteren Rekord. Doch es regt sich in Kurdistan und der Türkei Widerstand. Bisher wurde der Arbeiter:innenwiderstand aber immer wieder von der Allianz aus Regime und Kapitalisten gebrochen. Die Tageszeitung Yeni Özgür Politika sprach mit Kezban Konukçu, Sprecherin der Sozialistischen Solidaritätsplattform (SODAP) und DEM-Partei-Abgeordnete.

Die Stärke des Arbeiter:innenkampfes vor dem Putsch vom 12. September 1980 ist offensichtlich. Warum konnte er sich nach dem Putsch nicht wieder erholen?

Vor dem Putsch gab es in der Türkei eine starke Arbeiter:innenorganisierung. Ihr Kampf war hochpolitisiert. Gleichzeitig führte der effektive Kampf der kurdischen Freiheitsbewegung gegen den Kolonialismus dazu, dass die kapitalistischen Fraktionen in der Türkei unter Druck gerieten und nicht in der Lage waren, die von ihnen gewünschte Wirtschaftspolitik umzusetzen. Demgegenüber stehen die Beschlüsse vom 24. Januar 19801 und die Nichtumsetzung dieser Beschlüsse. Betrachtet man die Angelegenheit aus der Perspektive des Klassenkampfes, so wurde der Putsch vom 12. September tatsächlich durchgeführt, um die Beschlüsse vom 24. Januar umzusetzen.

Um die neoliberale Politik durchzusetzen, musste die Organisierung der Arbeiterklasse zerschlagen werden. Die Arbeiterklasse musste ihrer ganzen Möglichkeiten der Selbstverteidigung beraubt werden. Desorganisierung ist aber nicht gleichbedeutend mit der Nichtmitgliedschaft der Arbeiter in einer Gewerkschaft. Die Aushöhlung der bestehenden Gewerkschaften und ihre Umwandlung in gelbe Gewerkschaften, die Kontrolle der Forderungen der Arbeiter durch die direkt von der Regierung gegründeten Gewerkschaften, die man „kooperative Gewerkschaften“ nennt, sind ebenfalls wichtige Mittel zur Auflösung der Organisierung. Dennoch konnten man die Beschlüsse vom 24. Januar nicht unmittelbar nach dem Putsch umsetzen, da die Türkei ihre eigene Struktur hat. Zum Beispiel wurde damals die Privatisierung im öffentlichen Bereich von einigen Fraktionen innerhalb des Staates bekämpft. Daher wurde die neoliberale Politik erst mit der AKP vollständig realisiert.

Dies ist einer der Gründe, warum sich der Arbeiterkampf nicht mehr auf das Niveau erholen konnte, wie er vor den 1980er Jahren war. Ein weiterer Grund ist, dass der Strukturwandel des Kapitalismus die Struktur dessen, was wir Klasse nennen, verändert hat. Die Klasse hat keine produktionsorientierte Struktur mehr, die massenhaft in großen Fabriken zusammenarbeitet, wie es vor den 1980er Jahren der Fall war. Es gibt eine Zersplitterung. Was ich mit dieser Zersplitterung meine, sind die Schichten innerhalb der Klasse. Es haben sich Statusunterschiede zwischen Arbeitern herausgebildet, die die gleiche Arbeit verrichten. Diese Statusunterschiede haben schwerwiegende Auswirkungen auf die Organisierung. Der andere Grund ist, dass der Kapitalismus heute von der Produktion abgekoppelt ist. Dafür gibt es viele Gründe und zyklische Ursachen. Zum Beispiel ist die Rendite derzeit sehr hoch. Das System basiert darauf, Geld aus Geld zu machen. Das ist in Ländern wie der Türkei, die von der Produktion abgekoppelt sind, üblich. Ein weiterer Grund ist die Industrie und die künstliche Intelligenz. Ich denke, eine der wichtigsten Ursachen liegt aber in der Verlagerung der Klasse in den Dienstleistungssektor.

Wenn wir all dies betrachten, sehen wir, dass die Organisierungsmodelle in der Türkei nicht an die neue Situation angepasst wurden. Zum Beispiel gingen die Trendyol-Arbeiter auf die Straße und organisierten Proteste. Die sozialistische Bewegung diskutierte darüber, ob Trendyol-Arbeiter Arbeiter sind oder nicht. Denn die kapitalistische Ordnung spielt ein solches Spiel: Die Trendyol-Beschäftigten kaufen ihre eigenen Fahrzeuge und gründen ihr eigenes Unternehmen, das heißt, sie sehen aus wie Chefs. Manche Leute nennen sie „gewerbliche Kuriere“. In Wirklichkeit handelt es sich um ein kapitalistisches Spiel. Indem sie die gesamte Verantwortung und alle Kosten auf die Arbeiter abwälzen, vermitteln sie das Bild einer falschen „Partnerschaft“. Zusammenfassend lässt sich sagen, dass es eine ernsthafte Verlagerung in den Dienstleistungssektor gibt und der Kapitalismus diese Verlagerung erkennt und auf solche Mechanismen setzt. Die Akteure des Arbeiterkampfes in der Türkei aber denken nicht über diese Strukturen nach und stellen sie nicht infrage.

Beginnt an diesem Punkt die Krise der türkischen sozialistischen Bewegung?

Die Krise der sozialistischen Bewegung rührt daher, dass sie nicht erkennt, dass sich die Struktur der Klasse verändert hat, deshalb hält sie an den alten Methoden der Organisierung fest. In der Türkei gibt es immer noch die Ansicht, dass man Mitglied in einer autorisierten Gewerkschaft sein müsse, um Partner in Tarifverhandlungen zu sein. Daher will man in die Fabriken gehen und die Arbeitenden zu Mitgliedern machen. Wir sehen das Resultat, wenn wir uns die Zahlen ansehen. Höchstens 15 Prozent der Lohnarbeiter in der Türkei sind gewerkschaftlich organisiert. Nur sehr wenige von ihnen haben das Recht auf einen Tarifvertrag. Was ist mit dem Rest der Arbeitenden? Was wird mit den prekär Beschäftigten, den nicht Versicherten, den Flüchtlingen, die als Arbeitskräfte ausgebeutet werden? Darüber wird nie gesprochen.

Außerdem ignorieren die Gewerkschaften die Interessen der Arbeiter sowohl in den Tarifverträgen als auch in ihren Verhandlungen mit der Regierung …

Einige Freunde versuchen, sich als Volkstribune darzustellen. Sie sagen, dass die Gewerkschaften schlecht sind, dass sie sich alle in gelbe Gewerkschaften verwandelt haben. Aber diese Dinge wissen wir bereits. Warum wiederholen wir, was wir bereits wissen? Jemand, der sich selbst Sozialist nennt, hat die Verantwortung, positive Beispiele zu schaffen, anstatt negative Beispiele zu kritisieren. Ja, die meisten der dominierenden Gewerkschaften in der Türkei sind gelbe Gewerkschaften, einige von ihnen sind kooperative Gewerkschaften, aber wir müssen in der Lage sein, diesen Kreislauf zu durchbrechen. Als ich zum Beispiel zum ersten Mal in einer Gewerkschaft arbeitete, die der DISK angeschlossen war, musste ich lange die Statuten durcharbeiten. Sie haben sehr antidemokratische Statuten. Ich spreche von Satzungen, die zentralisiert sind und nicht für die Kontrolle der Arbeiter offen sind. Sie wissen ja, dass wir gegen Zwangsverwaltung sind, aber diese Satzungen geben ihnen sogar das Recht, Zweigstellen aufzulösen. Ist das nicht eine Art von Zwangsverwaltung?

Sie können nicht geändert werden und werden auch nicht von innen heraus geändert. Solange wir keinen Mechanismus schaffen können, den die Arbeiter kontrollieren können, ist es für diese Gewerkschaften sehr schwierig, sich zu ändern. Genauer gesagt, es ist schwierig voranzukommen, ohne neue, alternative und realistische Beispiele zu schaffen. Dennoch möchte ich nicht hoffnungslos und pessimistisch klingen: Es gibt kämpfende Gewerkschaften, es gibt uns. Was ich sagen will, ist Folgendes: Solange unser Denken innerhalb der gesetzlichen Grenzen arbeitet, können wir nicht vorankommen. Solange wir nicht aus unseren bürokratischen Gewohnheiten herauskommen und anfangen, freier zu denken, werden wir im Kampf keine Fortschritte machen. Der vielleicht wichtigste Aspekt in diesem Zusammenhang ist folgender: Wir können nicht vorankommen, wenn wir nicht in der Lage sind, Arbeiter- und Klassenkämpfe mit den identitätspolitischen Kämpfen zusammenzubringen. Um es ganz offen zu sagen: Der Klassenkampf in der Türkei kann nicht vorankommen, weil er nicht mit dem kurdischen Freiheitskampf zusammenkommt.

Was ist das Hindernis für die Umsetzung davon? Warum können der Klassenkampf und der kurdische Freiheitskampf nicht zusammenfinden?

Der kurdische Freiheitskampf hat seinen Anteil daran, aber als Sozialist möchte ich über den Anteil der Sozialisten sprechen. Die sozialistische Bewegung in der Türkei denkt, dass sie sich unter der Arbeiterklasse ausbreiten und wachsen kann, indem sie sich von der kurdischen Bewegung distanziert. Unsere Freunde sagen: „Die türkischen Arbeiter sind von der kurdischen Frage weit entfernt. Wenn wir uns mit dieser Frage beschäftigen, können wir sie nicht organisieren.“ Sie denken, dass sie nur durch einen Kampf, der sich auf die Wirtschaft konzentriert, stärker werden können. Sie glauben, dass sie wachsen können, indem sie sich vom kurdischen Volk und seinen Forderungen distanzieren, aber sie müssen erkennen, dass diese Formel seit Jahrzehnten nicht mehr funktioniert. Das heißt, wenn wir diese chauvinistische Mentalität innerhalb der Klasse nicht durchbrechen können, kann keine der beiden Seiten wachsen. Die Kurden leben auch in den Metropolen der Westtürkei. Sie haben ein Problem der Identität und der gleichberechtigten Staatsbürgerschaft, aber sie haben auch Probleme und Forderungen als Arbeitskräfte. Dieses Bild zwingt bereits beide Seiten, ihre Kämpfe zusammenzuführen.

Unter diesem Gesichtspunkt sollten wir über den Zusammenhang von Armut und Kriegspolitiksprechen. So belaufen sich beispielsweise die wirtschaftlichen Kosten, die der Türkei allein durch die abgeschossenen Drohnen in den letzten Monaten entstanden sind, auf Hunderte von Millionen Dollar. Ist die sozialistische Bewegung in der Türkei nicht in der Lage, den Zusammenhang zwischen Armut und Krieg herzustellen?

Wir müssen den Arbeitern erklären, dass, wenn die Forderungen des kurdischen Volkes nicht erfüllt werden, das bedeutet, dass jeden Tag mehr Arbeiter ihres Brotes geraubt wird. Die sozialistische Bewegung ist in diesem Sinne unzulänglich. Sie muss wissen, dass das Brot in Kugeln, Kanonen und Hubschrauber umgesetzt wird. Als diejenigen, die in den 1990er Jahren für die Arbeiter gekämpft haben, haben wir den Arbeitern die Kriegspolitik auf diese Weise erklärt. Wie ihr wisst, gab es einen Banditenstaat, der sich in Susurluk selbst entlarvt hat. Heute gibt es immer noch dieselbe Struktur des Verbrecherstaates, aber es gibt auch riesigen organisierten Diebstahl durch die Günstlinge des Regimes. Auch sie nutzen den Krieg als Mittel, um sich zu bereichern. Gegen all das brauchen die Werktätigen Hoffnung, und wir müssen in der Lage sein, den Menschen Hoffnung zu geben und kämpferisch zu sein. Wenn Sie sich an den Tekel-Widerstand erinnern, haben die Werktätigen mitten in Ankara im Schnee und im Winter Zelte aufgeschlagen. Die Zelte der Arbeiter von Tekel von Trabzon und Diyarbakır standen einander gegenüber. In den ersten Tagen waren sie weit voneinander entfernt. Am letzten Tag umarmten sie sich mit den Worten „Grüße von den Kindern des Meeres an die Kinder der Berge“. Dieses Bild kann nur durch gemeinsamen Kampf verwirklicht werden. Die Beziehung zwischen Armut und Krieg ist eigentlich so klar und einfach.

Zurzeit gibt es überall in der Türkei große und kleine Arbeitswiderstände. Andererseits wissen wir bereits, dass die Gesetze immer zugunsten der Kapitalisten sind. Wie bewerten Sie die aktuellen Entwicklungen im Zusammenhang mit der Politik des Regimes?

Die Regierung hat allen Werktätigen offen den Krieg erklärt. Sie macht auch keinen Hehl daraus. Sie nannte es einen „mittelfristigen Plan“ und hat Mehmet Şimşek die Verantwortung für die Wirtschaft übertragen. Mit der Lüge, „wenn wir den Mindestlohn erhöhen, wird die Inflation steigen“, und mit den falschen Inflationszahlen der TÜİK reduzieren sie Tag für Tag den Anteil der Werktätigen am Bruttosozialprodukt. Der sogenannte mittelfristige Plan basiert ausschließlich auf dieser Grundlage. Zu sagen: „Wir werden die Inflation senken, indem wir die Binnennachfrage reduzieren“, ist nichts anderes, als den Werktätigen zu sagen: „Lebt, bis ihr sterbt, atmet einfach.“ Die Gewinnquoten der Unternehmen werden mit 600 Prozent angegeben, als ob das ein Kunststück wäre. Das einzige, was die Regierung jetzt tut, ist, Kapital an große Konzerne zu transferieren. Die Regierung traut nicht nur Koç und Sabancı. Sie will ihre Macht sichern, indem sie die als Fünferbande bekannte Gruppe, die wir die anatolische Bourgeoisie nennen, stärkt. Deshalb brauchen sie billige Arbeitskräfte, um die eigene Fraktion weiter aufzubauen. Sehen Sie, wir sagen, dass der Mindestlohn erhöht werden muss, aber es gibt viele Arbeiter in Kurdistan und Anatolien, die für die Hälfte des Mindestlohns arbeiten. Für die Minen wird den Bauern ihr Land und ihr Wasser geraubt. Während die vom „Vaterland“ schwadronieren, wurde nichts unangetastet gelassen. Es ist nichts mehr übrig, alles ist verkauft. Wir haben es mit den größten Dieben in der Geschichte der Republik zu tun. Dagegen müssen alle Werktätigen gemeinsam kämpfen. Wenn es uns nicht gelingt, eine Kultur des gemeinsamen Kampfes zu entwickeln, wird es genauso weiter gehen.

Gibt es eine Grundlage und Strukturen für einen gemeinsamen Kampf? Ist zum Beispiel die DEM-Partei und ihre Politik die Adresse dafür?

Schauen Sie, die DEM-Partei ist keine Partei, die gerade erst gegründet wurde. Sie blickt auf eine sehr ernste Tradition des Kampfes zurück. Vor allem aber ist sie ein Ort, an dem die Forderung des kurdischen Volkes nach Freiheit und die Forderungen der türkischen Werktätigen nach Gleichheit, Freiheit und Gerechtigkeit zusammenlaufen. Sie wissen, dass unsere Partei eine große Gefahr nicht nur für diese Regierung, sondern auch gegen die staatliche Plünderungsmentalität darstellt. Das ist der Grund, warum wir ständig angegriffen werden. Man versucht ständig, unsere gemeinsame Kampfbasis zu unterminieren. Dies geschieht nicht nur durch Repression, Gewalt und Drohungen, sondern auch durch ideologische Angriffe. Sie greifen auch die DEM-Partei durch die Trolle von Strukturen wie Hüda-Par an, um ideologisch einen Keil zwischen uns und dem kurdischen Volk zu treiben. Sie greifen das Gründungsparadigma unserer Partei an. Gegen all das muss unser Volk wachsam sein. Die Organisation der türkischen Werktätigen hat eine Grenze. Alles kommt auf die kurdische Frage zurück. Die Verwirklichung der Forderung des kurdischen Volkes nach Freiheit bleibt immer wieder an der Frage der Organisierung der Arbeiter:innen in der Türkei hängen. Unsere Partei wurde gegründet, um diese Knoten zu lösen. Unsere Region ist eine völlig andere Region. Man kann in dieser Region nicht mit trockenen Dogmen und Vorurteilen Politik machen. Man kann in dieser Geografie keinen Arbeitskampf führen, ohne die kurdische Frage zu betrachten. Man betrügt sich sonst einfach nur selbst.

1 Paket, mit dem eine massive Lohnsenkung und eine Neoliberalisierung der Ökonomie durchgesetzt werden sollte.