Der Autor, Journalist und politische Beobachter Hasan Cudi hat sich gegenüber ANF in Hewlêr (Erbil) zu den kurdischen Schutzsuchenden an der EU-Außengrenze in Belarus und dem Hintergrund der Migrationsbewegung aus Südkurdistan geäußert.
Laut Cudi kann in Südkurdistan nicht mehr nur von einer Regierungskrise gesprochen werden, die Situation in der kurdischen Autonomieregion im Nordirak habe ein sehr schlimmes Ausmaß angenommen: „Von dieser Situation sind das Wirtschaftssystem, die Regierung und die Gesellschaft betroffen. Es herrscht ein gesellschaftliches Chaos. Das System reagiert hilflos und verschließt die Augen vor kommenden Katastrophen. Die Menschen reagieren darauf mit Emigration, auch das ist Ausdruck einer politische Haltung. Die Regierung hat die Verwaltung und das Wirtschaftssystem in den letzten drei Jahren auf einen Schlingerkurs geführt, sie hat ihren kurdischen Charakter und den Kontakt zur Gesellschaft verloren. Sie bringt seit 45 Jahren türkische Militärstützpunkte auf dem Boden Kurdistans unter und hat Hunderte unschuldige Aktivisten und Medienschaffende ins Gefängnis gesteckt. Die Gesellschaft reagiert natürlich auf diese Unterdrückung, das war auch an der geringen Beteiligung bei den letzten Wahlen zu erkennen.“
Gezielte demografische Veränderung in Südkurdistan
Darüber hinaus beobachtet Cudi auch eine gezielte demografische Veränderung in Südkurdistan. Diese Politik werde vor allem von der Türkei betrieben. „Es ist eine systematische Politik, dass junge Menschen zur Auswanderung bewegt werden und die Bevölkerungsstruktur verändert wird. Die Türkei will die Jugendlichen mit Unterstützung gewisser Kräfte aus der Region vertreiben und anstelle der ausgewanderten Kurden sunnitische Araber ansiedeln. Zu diesem Zweck hat sie ein Netzwerk aus Agenten und Schleppern aufgebaut, das die Jugend gruppenweise nach Europa schleust und damit die Demografie verändert. Es gibt also zwei Gründe dafür, dass die Menschen auswandern: Erstens protestieren sie damit gegen die Regierung, zweitens wird die demografische Struktur Südkurdistans gezielt geändert.“
95 Prozent der Bevölkerung ist unzufrieden mit der Regierung
Cudi widerspricht der Behauptung, dass diese Menschen die Liebe zu ihrem Land verloren haben. Die Gesellschaft im Süden sei durchaus patriotisch und das treffe auch auf die Auswanderer zu:
„Es ist falsch, den Menschen, die ins Ausland gehen, fehlenden Patriotismus vorzuwerfen. Etwa 95 Prozent der Bevölkerung ist jedoch unzufrieden mit der Regierung. Die gegenwärtige Regierung besteht aus einem Kreis, der despotisch, reaktionär und ungerecht ist und sich bei den Besatzern anbiedert. Sicherlich wäre es besser, wenn die Menschen, die nicht unter der Besatzung leben wollen, in ihrer Heimat bleiben und gegen diese Regierung kämpfen würden, anstatt ins Ausland zu gehen. Bei den Auswanderern handelt es sich jedoch nur um einen kleinen Teil derer, die mit der Regierung unzufrieden sind. Der Großteil von ihnen ist in der Heimat geblieben.“
Niemand glaubt der Regierung mehr
Zu den Regierungserklärungen zur aktuellen Situation erklärt Hasan Cudi: „In Südkurdistan findet allgemein eine Tragödie statt. Anstatt die Wahrheit zur Sprache zu bringen und eine Lösung zu finden, beschäftigt die Regierung sich damit, Szenarien zu erfinden. Die Erklärungen der Politiker haben nicht den geringsten Wert, niemand glaubt ihnen mehr.“
Die Rolle der westlichen Staaten
Cudi verweist auch auf die Rolle westlicher Staaten bei der Auswanderung aus Kurdistan: „Auch die europäischen Staaten sind Akteure der Migrationspolitik, weil sie seit dreißig Jahren die despotische Regierung in Südkurdistan unterstützen und zu der Repression gegen die Bevölkerung schweigen. Die EU trägt Schuld an dieser Situation und muss sich selbst hinterfragen. Den USA und Europa sollte klar sein, dass die Migration andauern wird, solange sie die bestehende Regierung in Südkurdistan unterstützen. Das Volk will nicht unter einer despotischen Regierung leben. Die westlichen Staaten dürfen die Rechtsverletzungen der Regierung nicht länger ignorieren.“
Belarus benutze die Situation in Kurdistan für seine eigene Interessen gegen die EU und sei ebenso verantwortlich, hält der kurdische Autor Hasan Cudi fest: „Die Migranten in den Wäldern an der Grenze zwischen Polen und Belarus werden dieser Politik geopfert.“