„Die Angst ist vor langer Zeit gestorben“

Der kurdische Aktivist Lider Polat ist in Istanbul verschleppt und misshandelt worden. Der türkische Staat wollte ihn als Spitzel gewinnen und einschüchtern. Doch diese Zeiten sind vorbei, sagt er: „Die Angst ist vor langer Zeit gestorben.“

Lider Polat, Mitglied des Jugendrats der Demokratischen Partei der Völker (HDP) in Istanbul, ist am 27. August von vier Personen, die sich als Polizisten ausgaben, im Viertel Soğanlık in Kartal auf offener Straße verschleppt worden. Einige Tage später tauchte eine Videoaufnahme von der Entführung auf. Darin ist zu sehen, wie Lider Polat von vier Personen auf der Straße angehalten und dazu gezwungen wird, in ein weißes Auto einzusteigen. Auf dem Weg zwischen den Istanbuler Bezirken Kartal und Başakşehir wurde in zwei verschiedenen Fahrzeugen physische und psychologische Gewalt gegen Polat ausgeübt.

Polat ist nicht die erste Person, die verschleppt und misshandelt wurde. Innerhalb der letzten sechs Monate sind fünf weitere Fälle bekannt geworden, in denen Personen auf offener Straße entführt wurden und zur Agententätigkeit gezwungen werden sollten. Als sie das Angebot ablehnten, wurden sie geschlagen und am Straßenrand ausgesetzt.

Was Polat erlebt hat, erinnert an die Methoden des JITEM – der informelle Geheimdienst der türkischen Militärpolizei – in den neunziger Jahren in Nordkurdistan. Gegenüber ANF erklärte der Aktivist des HDP-Jugendrats, dass seine Entführer ihm die Augen verbanden, ihn schlugen und dabei sagten: „Wenn wir dich hier töten und vergraben, erfährt das keine Menschenseele. Der Staat hat uns bevollmächtigt. Er steht hinter uns.“

Den Moment seiner Verschleppung und das weitere Geschehen schildert er so: „Ich war auf dem Weg zur Metro, als sich ein Mann von hinten auf mich warf und sagte, ich müsse eine Aussage machen. Ich schrie und fragte, wer er ist. Er sagte, dass ich bei der Polizei eine Aussage machen muss. Vier Personen zerrten mich in ein Auto. Im Auto wurden mir Plastikhandschellen angelegt und mein Gesicht wurde verdeckt. Wir waren vielleicht anderthalb Stunden unterwegs, ich konnte nichts sehen. Dann wurde ich vermutlich in ein gepanzertes Fahrzeug gesteckt, auch die Personen waren andere.

Sie bedrohten mich und sagten: ,Wir bringen dich zu unseren großen Brüdern, ihnen gegenüber wirst du dich respektvoll verhalten. Du musst tun, was sie sagen.' Die neu gekommenen Personen sagten, dass sie vom Geheimdienst sind. Sie drohten mir und sagten: ,Warum bist du bei der HDP? Wir werden dich hier nicht beherbergen, du lässt ja nicht locker. Du musst in dein Dorf gehen.' Als ich sagte, dass ich ein ganz normaler HDP-Mitarbeiter bin, wurden sie gewalttätig. Sie zogen mich nackt aus und wendeten drei Stunden lang Gewalt an. Am Ende des Tages setzten sie mich mit verbundenen Augen an der Schnellstraße in Başakşehir ab.“

Ganz zum Schluss bekam Polat seine Kleidung zurück: „Ich zog mich an. Sie sagten mir, dass sie wegfahren und ich meine Augen erst fünf Minuten später öffnen soll. Währenddessen nahmen sie mir alle persönlichen Gegenstände weg. Meine Kreditkarte und meinen Ausweis gaben sie mir zurück. Sie sagten, ich müsse ins Dorf zurückgehen. Natürlich wirkt sich das alles auf meine Psyche aus. Mir ist das zum ersten Mal passiert. Sie behaupten, dass sie dich zur Polizei bringen, aber das stimmt nicht. Sie sagten mir, dass in den Wäldern Tausende Menschen wie ich liegen. Sie erinnerten an die neunziger Jahre und sagten, dass der Staat hinter ihnen steht. Sie machten sogar Witze und sagten, ich solle nicht vergessen, hinterher zum Menschenrechtsverein IHD zu gehen und eine Presseerklärung abzugeben. Dafür würden sie Geld kriegen, behaupteten sie.“

Lider Polat betont, dass er im Jugendrat einer legaler Partei aktiv ist. An dieser Arbeit beteiligt er sich, weil die Partei eine Alternative im bestehenden System darstellt, erklärt er. Der Jugendrat sei dem Staat ein Dorn im Auge, weil er gegen die Assimilierungspolitik arbeite und sich gegen Prostitution und die Degenerierung der Jugend engagiere: „Unsere Arbeit macht den schmutzigen Machtzentren Angst. Sie greifen an, um uns zurückzudrängen. Es ist ja nicht nur mir passiert, in der letzten Zeit sind fünf meiner Freunde auf diese Weise angegriffen worden. Alle wurden auf die gleiche Weise bedroht. In den neunziger Jahren waren wir wenige, aber heute sind wir Tausende, wir sind Millionen. Deshalb werden wir wieder auf die gleiche Weise drangsaliert. Sie gehen davon aus, dass wir uns zurückziehen, wenn sie uns unter Druck setzen. Meine Freunde und ich werden uns noch besser organisieren und unsere Arbeit fortsetzen. Die Angst ist vor langer Zeit gestorben. Durch solche einfachen Machenschaften lassen sich kurdische Jugendliche nicht mehr zurückwerfen.“