„Der Mörder von Deniz Poyraz ist kein Einzeltäter“

Am ersten Prozesstag gegen den Mörder der HDP-Mitarbeiterin Deniz Poyraz in Izmir haben Hunderte Jurist:innen deutlich gemacht, dass die Tat nicht als Einzelfall abgehandelt werden kann. Die Verhandlung wurde nach Tumulten vertagt.

In Izmir hat der erste Verhandlungstag im Prozess gegen den Mörder der HDP-Mitarbeiterin Deniz Poyraz stattgefunden. Vor und im Gerichtssaal kam es zu Tumulten, weil zahlreichen Rechtsanwält:innen und Prozessbeobachter:innen der Zugang verwehrt wurde. Auch als die Verhandlung in einen größeren Saal verlegt wurde, reichte der Platz nicht aus. Zu der Verhandlung waren über 500 Anwält:innen gekommen, darunter die Vorsitzenden von 29 Anwaltskammern. Die HDP, Frauenorganisationen und mehrere Anwaltskammern beantragten die Zulassung als Nebenkläger.

Die Verhandlung begann mit der Personalienfeststellung des Mörders Onur Gencer. Die Anklage wirft ihm Mord mit dem Tatbestandsmerkmal der Heimtücke, Hausfriedensbruch und Beschädigung von Eigentum einer politischen Partei vor. Während der Personalienfeststellung filmte ein Polizist die Prozessbeobachter:innen, was zu Protesten der anwesenden Anwält:innen führte. Die Aufnahmen wurden daraufhin gelöscht.

Der von Militärpolizisten bewachte Angeklagte beleidigte während der Verhandlung mehrfach die als Nebenkläger zugelassenen Angehörigen von Deniz Poyraz mit sexistischen Sprüchen, woraufhin es zu weiteren Tumulten kam und die Anwesenden mit der Parole „Die Mörder werden vor dem Volk zur Rechenschaft gezogen werden“ reagierten. Die HDP-Vorsitzende Pervin Buldan protestierte gegen das Verhalten der Richter und der Sicherheitskräfte, die den Angeklagten nicht an seinen Ausfällen gegen die Angehörigen hinderten: „Dieser Mann ist in Minbic an der Waffe ausgebildet worden und ein Mörder, ein IS-Anhänger. Sie können nicht einfach ruhig bleiben, er muss wie ein Mörder behandelt werden!“

Kein Einzelfall, kein Einzeltäter

Die Verhandlung wurde ohne vorherige Anhörung der Verteidigung auf den 24. Januar vertagt. Nach dem Prozess gaben die Vorsitzenden der Anwaltskammern und die HDP-Politikerin Meral Danış Beştaş eine Erklärung vor dem Gerichtsgebäude ab. Der Vorsitzende der Anwaltskammer Izmir, Özkan Yücel, bezeichnete den Anschlag auf die HDP-Zentrale, bei dem Deniz Poyraz vergangenen Juni mit sechs Kugeln getötet wurde, als einen „Angriff auf die Geschwisterlichkeit und das Recht auf Leben“ in seiner Stadt. Für die Anwaltskammern, politische Parteien und zivilgesellschaftliche Organisationen stehe fest, dass der Anschlag kein Einzelfall sei und eine Folge der betriebenen Hetze und Polarisierung in der Türkei sei. „Während der Verhandlung hat der Mörder dasselbe aggressive Verhalten auch im Gerichtssaal gezeigt. Wir kämpfen dafür, dass die Verantwortlichen vor Gericht gestellt werden“, sagte Yücel.

Meral Danış Beştaş (HDP): Wir wissen, dass es eine organisierte Tat war

Die stellvertretende Fraktionsvorsitzende der HDP, Meral Danış Beştaş, erklärte, dass das maßlose Verhalten des Angeklagten auf seine Hintermänner verweise: „Es wird versucht, ihn als Einzeltäter darzustellen. Wir wissen jedoch, dass es eine organisierte Tat war, mit der die Völker gegeneinander aufgehetzt und die Feindschaft gegenüber den Kurdinnen und Kurden auf die Spitze getrieben werden sollte.“ Die Auswertung der Handydaten und Hotelbuchungen hätten aufgezeigt, dass es sich bei Gencer um einen angeheuerten Mörder handele, so die HDP-Politikerin, die selbst Juristin ist.

Der Mord an Deniz Poyraz

Deniz Poyraz ist am 17. Juni in der HDP-Zentrale im Bezirk Konak mit sechs Kugeln erschossen worden. An dem Tag sollte in dem Gebäude eine Vorstandssitzung mit etwa vierzig Personen stattfinden, die kurzfristig verschoben worden war. Die HDP sprach daher von einem Massaker, das dort hätte stattfinden sollen. Eine auf Video festgehaltene Tatortbegehung unmittelbar nach dem Mord zeigte, dass nicht nur ein bis zwei gezielte Schüsse abgegeben wurden. Die Schäden in den Räumlichkeiten deuteten auf einen Dauerbeschuss hin, mit dem alle Anwesenden hätten getötet werden sollen. Allein die verschlossene Tür des Büros des Vorstands hatte Onur Gencer durch mehrere Schüsse auf das Schloss entriegelt. Nach der Bluttat veröffentlichte er via WhatsApp ein Foto der getöteten Deniz Poyraz mit dem Zusatz: „Leiche 1“. Dies deutet darauf hin, dass Gencer eine größere Zielgruppe im Visier hatte. Seine Behandlung durch die Polizei spricht ebenfalls für eine organisierte Tat. Gencer war bei seiner Festnahme am Tatort äußerst höflich von Beamten aus dem Gebäude eskortiert und mit „Bruder“ angesprochen worden. Wieso er trotz massiver Polizeipräsenz am Eingang schwerbewaffnet in das rund um die Uhr von der Polizei überwachte Gebäude eindringen konnte, muss in dem Prozess aufgeklärt werden.

Auswertungen der Handydaten von Onur Gencer lassen nach Auffassung des Rechtsbeistands von Hinterbliebenen der getöteten Deniz Poyraz den Schluss zu, dass der Mann nicht allein handelte und die Tat vielmehr auf das Konto einer organisierten Struktur geht. Obwohl der Mordplan bis ins Detail ausgefeilt war – 115 Mal habe er sich innerhalb eines Jahres in der näheren Umgebung der HDP-Zentrale zur Erkundungstour aufgehalten, 24 Mal war er im Gebäude, zwei Mal ging er kurz vor dem Anschlag auf einem Schießstand üben – wird weder gegen mögliche Beteiligte ermittelt noch gegen Helfer. Stattdessen wird behauptet, Gencer habe allein gehandelt. Laut Anklage seien keine Verbindungen zu Organisationen oder bandenmäßigen Strukturen festgestellt worden – weder vor der Tat, währenddessen oder danach. Dies erscheint im Hinblick auf seine ideologische Gesinnung für wenig glaubwürdig.

In der Anklageschrift werden eine Reihe von Personen aus seinem Umfeld zitiert, darunter mehrere Taxifahrer, bei denen Onur Gencer, der von Beruf Rettungssanitäter ist, einen „verwirrten Eindruck“ gemacht hätte. Im gleichen Atemzug wird hervorgehoben, dass der offenkundige Faschist angeblich seit Jahren an Angststörungen leiden würde und eine leichte Depression bei ihm diagnostiziert worden sei. Damit will die Staatsanwaltschaft offenbar erreichen, dass es bei dem Prozess auf eine eingeschränkte Steuerungsfähigkeit beziehungsweise Schuldunfähigkeit des Angeklagten hinausläuft. Wieso er dann im Besitz eines von der Polizei ausgestellten Waffenscheins war, ist unklar.