„Der Geist von Armutlu soll zerstört werden“

Ibrahim Kavasoğlu ist in dem linken Viertel Armutlu in Antakya aufgewachsen und hat das Erdbeben überlebt. Auf einem Rundgang durch das Viertel erzählt er, dass Verwandte und Kindheitsfreunde immer noch unter den Trümmern liegen.

In der bei den Erdbeben vor fünf Wochen stark zerstörten Region Hatay haben nicht nur die Menschen eine Geschichte, sondern auch die Straßen und Viertel. Das Viertel Armutlu in Antakya zeugt von einer langjährigen revolutionären Geschichte.

 

Ibrahim Kavasoğlu ist in Armutlu aufgewachsen und hat das Erdbeben überlebt. Er ist einer der Freiwilligen, die unmittelbar nach der Katastrophe die Hilfsarbeiten organisiert haben. Auf einem Rundgang durch das Viertel erzählt er: „Diese Straßen haben einen Geist, und der Staat versucht seit Jahren, diesen Geist zu zerstören. Sie haben Abdullah (Cömert) in dieser Straße erschossen, dort unten, und dann Ahmet (Atakan). Von dem Punkt, an dem Ahmet erschossen wurde, bis zu der Stelle, an der Abdullah erschossen wurde, haben wir jeden Tag demonstriert. Auf dieser Straße befindet sich das Blut vieler Revolutionäre. Wir wissen, dass der Geist dieses Viertels zerstört werden soll. Der Staat versucht jetzt, diese Straßen zu zerstören, aber wir werden unser Bestes tun, um sicherzustellen, dass der Geist dieses Viertels nicht verschwindet."

Im Visier des Staates

Armutlu habe sich bereits in der Vergangenheit im Visier des Staates befunden, sagt Ibrahim Kavasoğlu und fährt fort: „In den ersten Tagen nach dem Erdbeben, als wir hier mit unserem eigenen Kampf etwas erreichen wollten, ist der Staat absichtlich nicht gekommen. Auch dessen sind wir uns bewusst. Unter einigen der Trümmer, die wir hier sehen, liegen immer noch Leichen, und nirgendwo wird gearbeitet. Alles soll einfach mitsamt der Leichen geräumt werden. Deshalb verlassen wir unsere Straßen nicht. Zumindest wollen wir die Leichen unversehrt ausgraben. Ihre Angehörigen sollen nicht noch mehr leiden und sie irgendwie begraben können. Viele Familien warten in diesem Moment auf ihre Leichen. Sie sind auf der Suche nach ihnen. Wie Sie sehen können, wird hier nicht gearbeitet. Es werden nur die Straßen freigeräumt, mehr passiert nicht.“

Den Geist des Viertels wiederbeleben

Als wir in eine andere Straße einbiegen, bleibt Ibrahim Kavasoğlu plötzlich stehen und erklärt, dass einige seiner Familienmitglieder hier wohnten: „In dieser Straße lebte meine Tante mit ihrer Familie. Wir wissen nicht, was mit ihnen ist. Die Gebäude sind in einem schrecklichen Zustand. Es ist eine der Straßen, in denen ich meine Kindheit verbracht habe. In dieser Straße habe ich zum ersten Mal Ball gespielt und suche jetzt nach den Leichen meiner Freunde aus der Kindheit. Im Moment können wir gar nichts tun. Es gibt nicht einmal einen Eingang. An der Straße dahinter ist das Gebäude, in dem mein Onkel mit seiner Familie wohnte. Wir haben keinen Kontakt zu ihnen und wissen nicht, ob sie überlebt haben. Wir können unsere Straßen nicht einmal Trümmer nennen, denn es gibt immer noch Leichen hier. Wir haben keine Ahnung, wie wir aus dieser Situation herauskommen, aber wir müssen den Geist dieses Viertels wiederbeleben."