In Ankara ist heute der Prozess gegen den kurdischen Politiker Selahattin Demirtaş fortgesetzt worden. An dem Verfahren im Gefängniskomplex Sincan kann der ehemalige Vorsitzende der Demokratischen Partei der Völker (HDP) nur über eine Videoliveschaltung aus dem Hochsicherheitsgefängnis Edirne teilnehmen, in dem er seit dem 4. November 2016 als politische Geisel der türkischen Regierung festgehalten wird. Demirtaş ist wegen der Gründung und Leitung einer Organisation angeklagt, außerdem wird ihm Terrorpropaganda sowie die Gutheißung von Straftaten und Straftätern zur Last gelegt. Ihm drohen 142 Jahre Freiheitstrafe. Die Anklage setzt sich aus 31 Untersuchungsberichten zur Aufhebung der Immunität in seiner Zeit als Abgeordneter im türkischen Parlament zusammen.
Der heutige Prozesstag begann mit einer langen Erklärung, in der Demirtaş auf die einzelnen Anklagepunkte einging. Unter anderem wird ihm vorgeworfen, in einer Rede den Begriff Kurdistan verwendet zu haben. Dazu erklärte der kurdische Politiker: „Ich möchte der Staatsanwaltschaft und dem Gericht folgendes mitteilen: Ich bin Kurde. Solange Sie mir nicht sagen, dass ich kein Kurde bin, denke ich nicht viel über diese Tatsache nach. Ich erinnere mich dann eher daran, dass ich ein Mensch bin. Wenn der Staatsanwalt die Verwendung des Begriffs Kurdistan, die Kritik am Staat und an der Regierungspolitik sowie Lösungsvorschläge als Propaganda für eine Terrororganisation auffasst, macht er meiner Ansicht nach eher selbst Werbung für die PKK.“
Die Existenz Kurdistans sei ein historischer und geographischer Fakt, an dem Gerichtsurteile nichts ändern könnten, führte Selahattin Demirtaş weiter aus: „Es ist die Gegend, in der hauptsächlich Kurden leben, und es ist mein Mutterland. Da niemals ein Staat gegründet worden ist, der ganz Kurdistan umfasst hat, hat es keine politischen Grenzen. Es gibt nur soziologische und geographische Grenzen. Dass die Kurden seit Zehntausenden Jahren im Zagros, in der Region um Kerkûk und Hewlêr, in dem Landstrich von Silêmanî bis Amed und Cizîr gelebt haben, ist in der Geschichte schriftlich und mündlich festgehalten. Soll ich von dieser Tatsache Abstand nehmen, weil die Staatsanwaltschaft es so haben will? Es tut mir leid, ich bin Kurde, selbst wenn ich tausend Jahre im Gefängnis bleibe.“
Selahattin Demirtaş forderte erneut ausdrücklich keine Haftentlassung: „Solange draußen diejenigen frei herumlaufen, die wegen Vergewaltigung, Diebstahl, Plünderei und Raub angeklagt sind, fühle ich mich in meiner Hochsicherheitszelle würdevoller und geachteter. Das ist alles, was ich dazu zu sagen habe.“