Özsoy: „Das Syrien-Szenario war von langer Hand geplant“
Der ehemalige HDP-Abgeordnete Hişyar Özsoy analysiert im Interview die aktuellen Entwicklungen in Syrien und unterstreicht, dass dahinter eine lange Planung steht.
Der ehemalige HDP-Abgeordnete Hişyar Özsoy analysiert im Interview die aktuellen Entwicklungen in Syrien und unterstreicht, dass dahinter eine lange Planung steht.
Die Situation in Syrien ist hochdynamisch. Der dschihadistische Al-Qaida-Ableger HTS hat die Macht über große Teile Syriens übernommen und stellt sich nun als „moderat“ dar. Währenddessen ist die Autonomieregion Nord- und Ostsyrien akut von der Türkei und ihren Söldnern bedroht. Minbic ist gefallen und die Söldnergruppen drohen den Euphrat zu überschreiten. In der Tageszeitung Yeni Özgür Politika ordnet der ehemalige HDP-Abgeordnete Hişyar Özsoy die Entwicklungen ein.
Das Baath-Regime wurde 1963 errichtet und blieb 61 Jahre an der Macht. Trotz des Bürgerkriegs blieb es weitere 13 Jahre an der Macht, brach dann jedoch innerhalb von zwölf Tagen wie ein Kartenhaus zusammen. Folgt die HTS Ihrer Meinung nach dabei einem internationalen Plan? Warum haben der Iran und Russland keine Unterstützung geleistet?
Tatsächlich ist die Situation sehr kompliziert, denn es sind viele Faktoren und Akteure beteiligt. Wir müssen klar sagen, dass wir, die wir nicht viel hinter die Kulissen blicken können, nicht vorausgesehen haben, dass Damaskus in so kurzer Zeit fallen würde. Alle dachten, dass es irgendwann Widerstand aus Damaskus geben, irgendwann ein Gleichgewicht erreicht werden und auf der Grundlage dieses Gleichgewichts neu verhandelt werden würde. Es wirkt fast wie ein zwölf Tage langer Film, ein schlechter Actionfilm, dessen Drehbuch bereits zu einem großen Teil geschrieben worden war und dessen Protagonisten bekannt sind. Natürlich wird das erst jetzt verständlicher. Es ist klar, dass Israel und seine Verbündeten über einen sehr langen Zeitraum – das letzte Jahr – ein bestimmtes Konzept für die Zukunft Syriens entwickelt haben. Jeder hat mehr oder weniger seine Rolle innerhalb dieses Konzepts gespielt.
Dafür wird es in der nächsten Zeit weitere Anzeichen geben. Wahrscheinlich war der Angriff der Hamas am 7. Oktober 2023, die israelische Invasion in Gaza als Reaktion darauf und die schrittweise Neuausrichtung dieses Kriegskonzepts auf den Libanon, den Iran und die iranischen Ziele in Syrien Teil eines ganz neuen Sicherheitskonzepts. Als Teil dieses Konzepts wollte man Assad und den Iran an einen bestimmten Punkt bringen. Offensichtlich haben Israel und seine Verbündeten – Großbritannien spielt dabei eine führende Rolle – dieses Konzept irgendwann in die Tat umgesetzt, um Assad zumindest zum Abzug zu bewegen.
Aber während dieser zwölf Tage dachten alle, dass sich nach Aleppo in Hama und Homs eine Widerstandsfront gegen die HTS bilden würde. Das ist nicht geschehen. Assads Armee gab Aleppo ohne jeden Widerstand auf. Vermutlich weil Assads Streitkräfte in Hama und Homs keinen Widerstand leisteten, haben Russland und Iran neue Kalkulationen angestellt. Wenn Assads Armee nicht kämpft, dann würden auch die internationalen Mächte diesen Krieg nicht unterstützen, denn so hätten sie eben keine Ergebnisse erzielen können. Russland versuchte ab diesem Zeitpunkt, seine regionalen Interessen zu schützen.
Der Iran befindet sich nach den israelischen Angriffen auf die Hisbollah in einer schwierigen Lage. Andererseits kamen im Iran Reformer an die Macht. Daher ist der rasche Sturz der Assad-Regierung ein wenig überraschend. Aber die internationalen Mächte haben den Abgang Assads und die Schaffung eines neuen Regimes in Syrien im Voraus geplant.
Im Allgemeinen heißt es, man solle die Politik des Nahen Ostens nicht auf der Grundlage von Komplotttheorien betrachten. Aber ich denke, es gab hier eine ganze Reihe von Verabredungen. Denn es ist klar, dass dieser Krieg im Hintergrund geplant wurde, Positionen wurden erwogen, Assads Armee wurde ausgehöhlt. Ich bin mir nicht sicher, ob es vorher Gespräche mit Russland und dem Iran gegeben hat, das wissen wir nicht, aber es könnte in diesem Zusammenhang indirekte Gespräche mit Russland gegeben haben. Wenn Russland in Syrien den Punkt erreicht, den Israel und der Westen wollen, könnte der Westen Russland an der ukrainischen Front die Hand reichen. Es könnte sein, dass er der Ukraine weniger Unterstützung für den Krieg gibt. Er könnte auf Verhandlungen drängen.
Trump hatte verkündet, er werde den Krieg in der Ukraine schnell beenden. Die Kosten des Krieges in der Ukraine sind für Europa hoch. Es gibt eine schwere Wirtschafts- und Energiekrise in Europa. Nun, Putin mag gewollt haben, dass der Krieg in Syrien so endet. Aber vielleicht wollte er auch eine Lösung im Ukraine-Krieg, bei der er nicht zu belastet wird. Wenn Trump an die Macht kommt, werden sich auch dafür Anzeichen finden lassen. Infolgedessen wurde in einem Gebiet, in dem so viele globale und regionale Mächte miteinander ringen, das Assad-Regime im Rahmen eines „regionalen Sicherheitskonzepts“ des Westens und Israels nach dem Hamas-Anschlag vom 7. Oktober gestürzt und ein Glied dieser Struktur, deren wichtigster Teil der schiitische Halbmond oder die sogenannte Widerstandsfront ist, zerstört.
Was ist die Rolle der Türkei bei der Machtübernahme durch HTS?
Ich denke, die Türkei versucht, in diesem Plan eine Stellung innezuhaben, auf deren Grundlage sie die Entwicklungen in Richtung ihrer Interessen in Syrien lenken kann. HTS hat Damaskus eingenommen, aber der Regimewechsel in Syrien ist eine regionale und globale Abgelegenheit, weit über der Kragenweite der Türkei hinaus. So wie wir das verstehen, haben die Entscheidungsträger die Türkei informiert. Aber die Antwort auf die Fragen, ob Assad mit Sicherheit verschwinden oder kämpfen wird und was die internationalen Mächte und Assads Verbündete tun würden, war unbekannt. Deswegen war die Türkei in ihren offiziellen Äußerungen zunächst eher zurückhaltend. Sie hat wahrscheinlich nicht erwartet, dass Aleppo und Damaskus in so kurzer Zeit fallen würden. Aber das wissen wir nicht.
Was ist aber nun die Position der Türkei? Es gab ja vor kurzem erst den Wunsch Erdoğans, sich mit Assad zu treffen. Steht die HTS unter der Kontrolle der Türkei oder wird sie unter Kontrolle der Türkei geraten?
Inwieweit die Türkei das Ende von Assad wirklich wollte, ist umstritten. Die Türkei hat schon lange Zeit mit einer Einigung mit Assad gerechnet, also einen Mittelweg der Interessen zu finden und die Kurden gemeinsam zu ersticken. Das war die Grundlage ihrer Politik. Dafür war Russland zu einer Art Vermittler gemacht worden. Noch vor einem Monat sagte Erdoğan zu Assad, den er seit 13 Jahren lang als „Babymörder“ bezeichnet hatte, dass er Hoffnung in ihn setze. Vielleicht mag Erdoğan ihn nicht und vielleicht wollte er persönlich, dass er verschwindet, aber die Türkei sollte als ein Machtblock betrachtet werden. Dieser Block ist derzeit in sich gespalten. Perinçek sagt das eine, die anderen Nationalisten das andere. Wenn wir uns türkische Fernsehsendungen ansehen, können wir leicht erkennen, dass die politischen Strömungen unterschiedliche Argumente vorbringen. „Assad ist weg, die Kurden werden einen Staat gründen“, ist der derzeit dominierende Diskurs. Das trifft auch auf die Kreise um Erdoğan zu. Immerhin gibt es einen Machtblock um Erdoğan, der eine anti-kurdische Position vertritt. Dieser Block wollte nicht wirklich, dass Assad geht. Es bestand die Sorge und Angst, dass wenn der Status quo in Syrien zerfällt, dadurch ein Vorteil für die Kurdinnen und Kurden entstehen könnte.
Hayat Tahrir al-Sham (HTS) ist keine Struktur wie die Syrische Nationalarmee (SNA). Wenn HTS in Damaskus eine gewisse Autonomie erlangt, kann sie sich von der Türkei und den von der Türkei unterstützten Kräften distanzieren. Bekanntlich sind HTS und SNA häufig in Konflikte geraten. Die Kämpfe zwischen diesen beiden Konstellationen waren bis vor kurzem heftig. Bei den HTS scheint es sich nicht um eine von der Türkei dominierte und kontrollierte Struktur zu handeln. Aber die Türkei wird sowohl versuchen, die HTS in die von ihr gewünschte Richtung zu lenken, als auch die von ihr direkt eingesetzten Gruppen dazu bringen, die Kurden so intensiv wie möglich anzugreifen.
Das Assad-Regime ist zusammengebrochen, Assad ist nach Russland geflohen. Werden es die internationalen Mächte und insbesondere Israel dabei belassen?
Sie werden an diesem Punkt nicht aufhören. Assad ist weg, aber Israel hat die gesamte militärische Kapazität Syriens zerstört. Es versucht, die neue Regierung in Syrien zu schwächen und vor allem ihre militärische Kapazität so weit zu reduzieren, dass sie keine Bedrohung für Israel darstellt. Obwohl die Türkei im Inland in tiefen Turbulenzen und Chaos steckt, versucht sie, mit allen ihr zur Verfügung stehenden Mitteln zu verhindern, dass die kurdischen Errungenschaften von Dauer bleiben.
Sie haben von einem Drehbuch gesprochen? Wer sind denn dann ihrer Meinung nach die Autoren?
Dieses Szenario wurde von Militärstrategen und Geheimdiensten geschrieben und umgesetzt. Es ist nicht möglich, ein konkretes Land zu nennen. Aber diejenigen, die mit HTS und den Gruppen in Idlib nachrichtendienstlich und beratend im Gespräch waren, und diejenigen, die beschlossen, dass Assad die Macht abgeben sollte, haben dieses Szenario geschrieben. Wenn wir uns das aktuelle Agieren Israels ansehen, dann sehen wir, dass es gut vorbereitet ist. Der Einmarsch über die syrische Grenze war keine Spontanentscheidung. Die bombardierten Orte wurden auf der Grundlage von Geheimdienstinformationen ausgewählt.
Wir haben keine konkreten Informationen über stattgefundene Gespräche und Verhandlungen, es handelt sich also um Annahmen. Ich weiß nicht, inwieweit die NATO an diesem Plan beteiligt ist, aber es handelt sich offensichtlich um ein Szenario, das von Israel und Großbritannien unter Zustimmung der USA ausgearbeitet wurde. Ich denke, dass die Türkei hier besser informiert ist. In der Türkei gab es innerhalb des regierenden Blocks keine starke Positionierung im Sinne eines Sturzes von Assad. Im Gegenteil: Einerseits versuchte die türkische Regierung, sich mithilfe von Russland mit Assad zu versöhnen, und andererseits wollte sie sich eine gewisse diplomatische Flexibilität bewahren, um ihre Position zu ändern, falls Assad abtritt. Die Haltung ist, dass wenn Assad auf sie gehört hätte, dies nicht passiert wäre. Jetzt ist er weg und man müsse versuchen, sich auf die neue Situation einzustellen. Die vernünftigste Antwort auf die Frage, wer dahintersteckt, ist daher, dass ein solches Konzept in Partnerschaft mit den Mächten umgesetzt wurde, welche die Sicherheit Israels garantieren, einschließlich Israel.
Wird jetzt HTS von den Terrorlisten der USA und UN gestrichen? Wie geht es jetzt weiter? Wird HTS an der Macht bleiben?
Zunächst muss man feststellen, dass die Türkei offiziell als Bürge auftrat und die HTS durch die Astana-Gespräche schützte, obwohl sich HTS auf den Terrorlisten der Türkei, der EU, Großbritanniens und der USA befindet. Die Türkei hat auch einige Mechanismen gegenüber dem Westen und den USA geschaffen, um Idlib von den gegen Syrien verhängten Sanktionen auszunehmen. In Idlib (dem Kerngebiet der HTS) werden die Gehälter in türkischer Lira gezahlt. Ich habe Cavusoglu, den damaligen türkischen Außenminister, im Parlament dazu befragt: „Die türkische Lira ist wertvoll, also benutzen sie sie“, sagte er. Das ganze Parlament hat darüber gelacht. Alle nannten die HTS eine terroristische Organisation. Alle Länder unterstützten sie, um Assad unter Kontrolle und Druck zu halten. In diesen sechs bis sieben Jahren wurde von ihnen al-Jolanis Bart etwas gestutzt. Sie ließ HTS ihre Rhetorik mildern. Im Moment spricht al-Jolani über die Vielfalt Syriens und die Rechte der Minderheiten. Er spricht von der Notwendigkeit einer damit vereinbaren politischen Struktur. Das sind keine schlechten Worte. Zusammenfassend lässt sich sagen, dass es eine starke PR gibt. Es wird ein bestimmtes Bild konstruiert.
Wenn die HTS ihre Beziehungen zu Israel normalisiert und kein gewalttätiges gesellschaftspolitisches Projekt auf dogmatischer Grundlage umgesetzt wird, dann könnte die Organisation mit der Zeit von den Terrorlisten verschwinden. Man sieht es ja deutlich. Als es die Konjunktur zuließ, war es möglich, Damaskus in zwölf Tagen zu erobern. Andererseits muss man sagen, dass es nicht so einfach ist, in Damaskus an der Macht zu bleiben: HTS muss das Etikett „terroristisch“ ablegen, eine gewisse Basis für die Versöhnung mit den internationalen Mächten finden und Geld auftreiben. Für den Wiederaufbau Syriens werden mindestens 300 bis 500 Milliarden Dollar benötigt. Woher sollen diese Investitionsmittel für den Wiederaufbau Syriens kommen? Am wichtigsten ist, dass es keine Sicherheitsbedrohung für Israel darstellt. Das ist der Grund für Assads Abgang. Mit der Zeit werden wir sehen können, ob die ideologische Ausrichtung und die politische Situation der HTS und ihrer Verbündeten in diese Richtung gehen wird oder ob sie noch dogmatischer wird, wenn sie ihre Macht konsolidiert. Es ist ja nicht so, dass der Westen nicht mit den Strukturen verhandelt, die er als terroristisch bezeichnet. Das haben wir in den Beziehungen zu den Taliban in Afghanistan gesehen. Der Westen wird vorrangig nur seine Interessen im Auge behalten. Wen er heute als Terroristen bezeichnet, kann er morgen „vernünftige Menschen“ nennen.
In Europa wird die HTS bereits als moderate Islamisten oder moderate Dschihadisten bezeichnet …
Der Westen weiß ganz genau, dass dies nicht der Realität entspricht. Aber es gibt eine realpolitische Situation. Um in diesem Rahmen zu agieren, muss ein Deckmantel geschaffen werden. Lassen Sie mich ein Beispiel nennen. Sisi inszenierte einen Putsch gegen eine gewählte Regierung in Ägypten. Das US-Außenministerium wurde hartnäckig gefragt: „Nennen Sie das einen Militärputsch?“ Die US-Verwaltung antwortete: „Wir können es nicht als Militärputsch bezeichnen.“ Es wurde nicht erklärt, warum. Das Außenministerium sagte „wir können nicht“, nicht „wir machen es nicht“. Das Außenministerium kann nicht sagen „wir tun es nicht“, weil es für die USA rechtlich nicht möglich ist, offiziell einem Land Hilfe zu leisten, in dem ein Militärputsch stattgefunden hat. Wenn das Außenministerium sagen würde, es habe sich um einen Putsch gehandelt, kann es nicht helfen. Die HTS ist als „terroristisch“ eingestuft worden. Wenn dort eine terroristische Struktur herrscht, kann dort offiziell keine internationale Unterstützung geleistet werden. Es gibt Sanktionen. Das hat viele Konsequenzen. Wenn die HTS vor internationalen Sanktionen geschützt werden will, wenn sie die Aufhebung von Wirtschaftssanktionen wünscht, wenn sie eine diplomatische Normalisierung anstrebt, wenn sie internationale Anerkennung wünscht, wird sie natürlich versuchen, diese Bezeichnung loszuwerden. Daher ist das auf sie angewendete Terroretikett in Wirklichkeit die Basis für Politik und Verhandlungen. Es handelt sich um eine Trumpfkarte in den Händen des Westens. Diese Terrorlisten sind ein Instrument, mit dem die HTS sozusagen mit dem Schwert der Demokratie an einen bestimmten Punkt gebracht werden sollen.