Celle: Trauer und Stolz bei Premiere von „Briefe aus Şengal“

Der Dokumentarfilm „Briefe aus Şengal“ hat Kinopremiere im ausverkauften Saal der Kammer-Lichtspiele in Celle gefeiert. Zuvor fand ein öffentliches Gedenken für die Opfer des IS-Genozids an der ezidischen Gemeinschaft statt.

Der Dokumentarfilm „Briefe aus Şengal“ (ku. Nameyên ji Şengalê) feierte am Donnerstagabend Kinopremiere im Saal der ausverkauften Kammer-Lichtspielen in Celle. Rund 250 Menschen waren gekommen, um sich das Werk von Regisseurin Dersim Zerevan anzuschauen. „Briefe aus Şengal“ handelt vom Widerstand gegen die Terrormiliz „Islamischer Staat“, die nach der Einnahme der Großstadt Mosul im Nordirak am 3. August 2014 das ezidische Siedlungsgebiet Şengal überfiel und ein Massaker verübte. Die in der Region stationierte Peschmerga zogen sich auf Befehl der PDK kampflos zurück. Verteidigt wurde die ezidische Gemeinschaft von der PKK-Guerilla und den YPG/YPJ aus Rojava. Der Film mit sechs Episoden, in denen jeweils ein Brief verlesen wird, erzählt die Geschichte von Menschen aus verschiedenen Ländern, die gegen den IS kämpften.

Öffentliches Gedenken

Im Vorfeld der Premiere fand vor dem Kino ein öffentliches Gedenken für die Opfer des IS-Genozids statt, dessen Beginn sich am Donnerstag zum neunten Mal jährte. Aufgerufen dazu hatten verschiedene ezidische Verbände. Trotz starkem Regen versammelten sich zahlreiche Menschen ab 18:30 Uhr in der Innenstadt in Celle. Nach der Eröffnung wurde eine gemeinsame Schweigeminute für die Toten von Şengal abgehalten. Der ezidische Geistliche Şêx Husên sprach Gebete und durchbrach die Stille.


In anschließenden Reden, die unter anderem von der Ko-Vorsitzenden des ezidischen Kulturzentrums, Xatê Geyikci, gehalten wurden, wurde betont, dass die ezidische Gemeinschaft auch nach unzähligen Genoziden und Massakern immer noch existiere, ihren Glauben auslebe und Widerstand leiste. Zwei junge Aktivistinnen verlasen daran anschließend eine Erklärung des Dachverbands der Ezidischen Frauenräte e.V. (SMJÊ), in deren Kern die Anerkennung des Völkermords und ein aktives Eintreten für die Ezidinnen und Eziden gefordert wurde. Als weitere Redner traten Klaus Didschies im Namen der Stadt Celle, Heval Zerdeşt vom Zentralverband der Ezidischen Vereine e.V. (NAV-YEK) und der ezidische Aktivist Şêx Lokman auf.

Haupttenor der Reden war die Dringlichkeit, den Wiederaufbau von Şengal voranzutreiben, die Autonomieverwaltung sowie die Einheiten zum Schutz und der Verteidigung der ezidischen Glaubensgemeinschaft anzuerkennen, Unterstützung für die Rückkehr der Vertriebenen aus den Geflüchteten-Camps nach Şengal zu leisten und die permanenten Drohnenangriffe des NATO-Mitglieds Türkei gegen die Überlebenden des Völkermords zu beenden.

Ezid:innen fordern Anerkennung als eigenständige Glaubensgemeinschaft

Eine weitere Forderung der ezidischen Community in Deutschland ist ihre Anerkennung als eigenständige Glaubensgemeinschaft – im Zusammenhang mit der Einstufung der IS-Massaker als Völkermord durch den Bundestag im vergangenen Januar. Erwähnt wurde, dass nun entsprechende Konsequenzen folgen müssten, damit sich solche Gräueltaten, Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit nicht wiederholen. „Denn die Gefahr besteht und ist durch die Instabilität der Regierungen in der Region allgegenwärtig“, hieß es.

Große Trauer, aber auch Stärke und Stolz

Im Laufe der gesamten Veranstaltung und auch dem Film schwang große Trauer mit, aber auch eine Stärke und Stolz, der Vernichtung zu widerstehen und nun selbstbewusst eigenen Strukturen aufzubauen, um sich sowohl selbst zu verteidigen als auch selbst zu verwalten.

Genozid und Femizid in Şengal

Şengal ist das letzte zusammenhängende Siedlungsgebiet der ezidischen Gemeinschaft. Der Angriff des IS auf Şengal hatte das Ziel, das ezidische Volk auszulöschen. Durch systematische Massakrierung, Vergewaltigung, Folterung, Vertreibung, Versklavung von Mädchen und Frauen sowie die Zwangsrekrutierung von Jungen als Kindersoldaten erlebte die ezidische Gemeinschaft den von ihr als Ferman bezeichneten 74. Völkermord in ihrer Geschichte. Die Zahl der Todesopfer wird von verschiedenen Quellen auf 5000 bis 10000 beziffert, über 400.000 Menschen wurden aus ihrer Heimat vertrieben. Mindestens 7.000 Frauen und Kinder wurden verschleppt, von 2.500 der Entführten fehlt bis heute jede Spur. Daher stellt dieser Genozid in seiner Form zugleich auch einen Femizid dar.