Am 27. Juni 2016 hatten Abgeordnete, Anwält:innen und Angehörige Strafanzeige gegen Funktionäre der türkischen Regierung, des Militärs und der Verwaltung wegen Beteiligung an Kriegsverbrechen (§ 8 VSTGB - Völkerstrafgesetzbuch), Verbrechen gegen die Menschlichkeit (§ 7 VStGB) sowie Kriegsverbrechen wegen des Einsatzes verbotener Methoden der Kriegsführung (§ 8 VStGB) gestellt.
Menschen bei lebendigem Leib verbrannt
Angezeigt wurden unter anderem die Massaker und Angriffe auf die Zivilbevölkerung in Cizîr und Şirnex während der Ausgangssperren in den Jahren 2015 und 2016. Regierungstruppen hatten die Städte umstellt, mit Artillerie beschossen und Menschen, die die Häuser verließen, gezielt getötet. In den sogenannten Todeskellern von Cizîr starben mindestens 178 Menschen, die vor dem Artilleriebeschuss Schutz gesucht hatten. Die Keller wurden von Panzern gesprengt oder es wurde Benzin in sie eingeleitet und die Eingeschlossenen bei lebendigem Leibe verbrannt. Viele der Toten sind immer noch nicht identifiziert.
Auf 200 Seiten werden in der Anklageschrift nach dem Völkerstrafgesetzbuch diese und ähnliche Verbrechen dargelegt. Seit der Einreichung der Klage bei der Generalbundesanwaltschaft vor sechs Jahren gibt es keinerlei Informationen über den Fortgang des Verfahrens. Deswegen richtete die Abgeordnete Gökay Akbulut (DIE LINKE) eine mündliche Frage an die Bundesregierung, was ihr über das Verfahren bekannt ist.
Immunitätsargument gegen Verfolgung von Erdoğan
Die Antwort der Bundesregierung steht in Kontinuität mit der Komplizenschaft vorhergegangener Regierungen mit den türkischen Kriegsverbrechen. So wiegelt die Bundesregierung jegliche Verfolgung ab und bezieht sich in ihrer Darstellung auf Erdoğans absolute Immunität als Staatschef.
Ablehnung von Ermittlungen ist eine politische Entscheidung
Dies gilt aber einem Urteil des Bundesgerichtshofs aus dem Jahr 2021 (Az. 3 StR 564/19) nicht für Personen, die funktionale Immunität besitzen. Demnach steht der Verfolgung nachrangiger Vertreter des Staates oder von ehemaligen Staatsvertretern, die an Kriegsverbrechen beteiligt sind, juristisch nichts im Wege.
Doch auch hier sucht die Bundesregierung einen argumentativen Ausweg. Der Bundesanwalt habe, „unbeschadet der Frage, ob zureichende tatsächliche Anhaltspunkte für die Beteiligung an Verbrechen nach dem Völkerstrafgesetzbuch vorliegen, bisher von der Aufnahme von Ermittlungen (…) abgesehen.“
Damit wird deutlich, dass es sich hier um eine politische Entscheidung handelt. Die Bundesregierung räumt damit ein, dass Ermittlungen möglich seien, aber nicht stattfinden. Die Begründung ist mehr als fragwürdig, so ist die Rede davon, dass es sich bei den Personen um keine deutschen Staatsangehörigen handele und diese sich „nach derzeitigem Erkenntnisstand auch nicht in Deutschland“ aufhielten.
Völkerstrafrecht sieht Verfolgung vor
Das Völkerstrafrecht sieht jedoch explizit vor, dass dort alle „in ihm bezeichneten Straftaten gegen das Völkerrecht, für Taten nach den §§ 6 bis 12 auch dann, wenn die Tat im Ausland begangen wurde und keinen Bezug zum Inland aufweist“, verfolgt werden können. So stellt sich die Frage, wie die Bundesanwaltschaft feststellen will, dass sich die angezeigten Personen nicht auch in Deutschland aufhalten könnten, wenn sie gegen diese Personen kein Verfahren einleitet, also auch keine Aufenthaltsortfeststellung durchgeführt wird. In der Strafanzeige wird die strafrechtliche Verfolgung des ehmaligen türkischen Ministerpräsidenten Ahmet Davutoğlu, des ehemaligen Innenministers Efkan Ala, der ehemaligen Verteidigungsminister Ismet Yılmaz und Mehmet Vecdi Gönül, des türkischen Generalstabschefs Hulusi Akar, des Befehlshabers der türkischen Landstreitkräfte, General Salih Zeki Çolak, und des Befehlshabers der Gendarmerie, General Galip Mendi, gefordert. Wenn es nach der Bundesregierung geht, dann sollen diese Verbrechen offenkundig ungesühnt bleiben.