Die HDP-Vorsitzende Pervin Buldan hat sich auf der Fraktionssitzung ihrer Partei in Ankara zu aktuellen Themen geäußert und auf den Zusammenhang zwischen der Armut der Bevölkerung in der Türkei und den Angriffskriegen der Erdogan-Regierung in den Nachbarländern geäußert.
„Die Türkei befindet sich am Scheideweg. Aus allen gesellschaftlichen Gruppen werden zunehmend Forderungen nach Veränderungen laut, um sich von einem Krisensystem zu befreien, das keine Lösungen für die bestehenden wirtschaftlichen, sozialen und rechtlichen Probleme produziert. Überall sind Stimmen zu hören, die sagen: Es reicht! Diese Stimmen machen der Regierung Angst. Um ihre Macht nicht zu verlieren und ihre aus Profit und Korruption bestehende Ordnung aufrecht zu erhalten, wird sie immer aggressiver. Wir haben es mit einer Regierung zu tun, die für den eigenen Machterhalt alle Konflikt- und Krisenmechanismen einsetzt: Von Justizkomplotten bis zu politischen Putschoperationen, von einer Politik der Polarisierung bis zum Angriffskrieg in Nachbarländern.“
Die Justiz habe einen Feldzug gestartet gegen Menschen, die sich zur Zeit des IS-Angriffs mit Kobanê solidarisierten, und solche, die während des Gezi-Aufstands kollektiven Widerspruch gegen das bestehende System eingelegt hätten. Die Regierung befinde sich auf der Straße im Krieg gegen Frauen, Jugendliche und Arbeiter:innen und in der Politik gegen die HDP und alle demokratischen Kräfte. Auch gegen die Natur werde Krieg geführt, so die Ko-Vorsitzende der HDP.
Gezi-Prozess: Solidarität mit Osman Kavala
Zu dem am Montag gefallenen Urteil im Gezi-Prozess erklärte Buldan, dass das Verfahren nach den erfolgten Freisprüchen durch politische Einflussnahme auf die Justiz neu aufgerollt wurde: „Der liebe Osman Kavala wurde zu lebenslänglicher Haftstrafe verurteilt, die liebe Mücella Yapıcı und sechs weitere Freundinnen und Freunde zu jeweils 18 Jahren. Ich sende ihnen allen meine Grüße und spreche ihnen meine Solidarität aus: Ihr seid in eurem Kampf für Gerechtigkeit nicht allein, das demokratische Gewissen der Türkei ist auf eurer Seite.“ Die AKP habe die Justiz erobert und leite die Gerichtsbarkeit, erklärte Buldan weiter: „Daher sind die Urteile, die vor diesen Gerichten gefällt werden, keine rechtlichen Urteile, sondern politische Entscheidungen.“
Krieg für den Machterhalt der Regierung
Ein weiteres Standbein der Regierung im Kampf für ihren Machterhalt seien die Angriffskriege in den Nachbarländern der Türkei, so Buldan: „Die Regierung sagt zur Ukraine, dass im Krieg niemand gewinnen kann. Gleichzeitig hat sie mit imperialistischer Zielsetzung eine grenzüberschreitende Angriffswelle in der Föderalen Region Kurdistan gestartet. Unter Missachtung des Völkerrechts in anderen Ländern einzumarschieren, bedeutet Expansionismus und Kriegspolitik. Die Regierung lebt von ständigen Krisen und Konflikten und exportiert Kriege in den Irak, nach Syrien, in den Mittleren Osten, um die Region weiter zu destabilisieren und der Bevölkerung, insbesondere dem kurdischen Volk, die Möglichkeit auf ein friedliches Zusammenleben zu nehmen. Den Preis für diese Politik muss wie immer das Volk zahlen. Diese Politik wird die kurdische Frage weiter vertiefen und in die Ausweglosigkeit treiben.
Der AKP-Vorsitzende [Erdogan] hat vergangene Woche gesagt, dass die HDP die einzige Partei ist, der die Militäroperation unangenehm ist. Diese Worte zeigen die Lage der politischen Opposition, die nichts gegen die Kriegspolitik einzuwenden hat. Ich möchte an dieser Stelle folgendes sagen: Als Regierung mag Ihnen die Situation angenehm sein, aber wir empfinden auf jeden Fall großes Unwohlsein angesichts Ihrer Kriegspolitik. Das geht auch nicht nur uns so, wir hören dasselbe aus der Bevölkerung. Sie mögen entspannt sein, aber wir empfinden große Trauer angesichts der Leichen junger Menschen. Es stört uns, dass Sie die Ruhe der Völker in der Region zerstören und dass die Gesellschaft dafür mit zunehmender Verarmung bezahlen muss. Und Sie stört unsere Friedenspolitik. Das sehen und wissen wir, aber wir werden sie nicht aufgeben. Wir werden uns immer gegen den Krieg positionieren und für Frieden eintreten, und wir werden weiter für Sie unangenehm sein.“
Wie Pervin Buldan weiter ausführte, haben sich die Kriegsausgaben der Türkei seit 2015 versechsfacht. Parallel dazu sei der Einkommensdurchschnitt gesunken. Jede abgefeuerte Kugel und jede Bombe bedeute, dass die Menschen in der Türkei weniger Geld in der Tasche hätten.
Diese Entwicklung lasse sich nur im gemeinsamen Kampf aller demokratischen Kräfte stoppen, sagte Buldan und rief zur Teilnahme an den Veranstaltungen am 1. Mai auf.