Eine Delegation aus dem Vereinigten Königreich will kommenden Woche bei der Organisation für das Verbot chemischer Waffen (OPCW) im niederländischen Den Haag einen Ermittlungsbericht über den Einsatz von geächteten Kampfstoffen durch die Türkei in der Kurdistan-Region Irak (KRI) einreichen. Das kündigte der britische Journalist Steve Sweeney an, der über ein Jahr lang die Chemiewaffenangriffe der türkischen Armee im südlichen Teil Kurdistans dokumentierte. Der Delegation gehören unter anderem auch die renommierte Menschenrechtsaktivistin und Anwältin Margaret Owen, ihre Kollegin Melanie Gingell sowie die Gewerkschafterin Andi Kocsondi an.
Seit der im April vergangenen Jahres geführten Invasion der Türkei in Südkurdistan weisen kurdische Guerillaorganisationen, NGOs, politische Parteien und Medieneinrichtungen auf die Verwendung verbotener Chemiewaffen durch die Truppen der Regierung in Ankara hin. Auch bei dem aktuellen Besatzungsangriff in Zap und Avaşîn setzt das türkische Militär auf verbotene Kampfstoffe. Doch Forderungen, Petitionen und Appelle nach Ermittlungen zu den Vorwürfen prallten sowohl bei der OPCW als auch bei den westlichen Regierungen bisher auf beredtes Schweigen.
Nach Berichten über mögliche Giftgasangriffe im ukrainischen Mariupol durch Russland waren das internationale Medieninteresse und der Protest immens. Umgehend gab es Ankündigungen für Überprüfungen, unter anderem in Großbritannien. Dem Nato-Mitglied Türkei scheint demgegenüber jedes Mittel gegen die Kurdinnen und Kurden erlaubt zu sein. Diese Doppelmoral wirft ein bezeichnendes und beschämendes Bild auf den Zustand des sogenannten Westens.
Das will Steve Sweeney anprangern. Der Journalist will bei der OPCW „belastende Erkenntnisse“ offenlegen. Der Delegationsbericht enthält Aussagen von kurdischen Dorfbewohner:innen, Ärzt:innen und Sicherheitskräften. Darüber hinaus wurden Bodenproben, Videomaterial und andere Beweisen gesammelt. „Wir werden auch nochmals einen Brief mit der Forderung nach einer dringenden Entsendung eines Inspektionsteams in die Region übergeben“, sagte Sweeney. „Seit mehr als einem Jahr wird verbotene Munition in Guerillatunneln und auch gegen die lokale Dorfbevölkerung eingesetzt. Die Zahl dieser Angriffe geht in die hunderte. Viele der Betroffenen, mit denen wir gesprochen haben, leiden auch Monate später weiterhin unter den Folgen der Chemiewaffen, mit denen sie in Kontakt gekommen waren.“ Gesundheitspersonal und die Peschmerga der Autonomieregierung hätten gegenüber der Delegation ebenfalls Informationen über die Verwendung von geächteten Kampfstoffen durch die Türkei übermittelt, sagte Sweeney. „Sie wurden aber sowohl vom türkischen Geheimdienst als auch von den Sicherheitskräften der in der Region dominierenden Demokratischen Partei Kurdistans bedroht, zu schweigen.“
Vor 34 Jahren schwieg die Welt schon einmal. Dies hatte zur Folge, dass allein in der südkurdischen Stadt Helebce (Halabdscha) rund 5.000 Menschen bei einem Giftgasangriff des irakischen Diktators Saddam Hussein ums Leben kamen. „Jetzt wiederholt sich die Geschichte erneut“, so Sweeney. „Die OPCW muss dringend eine Untersuchung durchführen und die internationale Gemeinschaft muss ihr Schweigen zum versuchten Völkermord an den Kurdinnen und Kurden brechen.“
Die Übergabe der Untersuchungsergebnisse der britischen Delegation soll am Dienstag stattfinden. Zeitgleich ist eine Kundgebung vor dem Sitz der OPCW geplant.