Bezirksparlament verurteilt Angriffe der Türkei auf Rojava

Das Bezirksparlament Friedrichshain-Kreuzberg verurteilt die völkerrechtswidrigen Angriffe der Türkei auf Nordsyrien und bekennt sich ausdrücklich zur Städtepartnerschaft mit Dêrik.

Das Bezirksparlament Friedrichshain-Kreuzberg in Berlin hat mit großer Mehrheit von LINKE, Grüne, SPD, FDP und Partei bei Enthaltung der CDU eine Resolution zur Verurteilung der völkerrechtswidrigen Angriffe der Türkei auf Rojava beschlossen. Im Anschluss an die Abstimmung gab es noch eine Schweigeminute für die Opfer des türkischen Luftangriffs auf das Dorf Teqil Beqil bei Dêrik am 19. November.

Die Resolution wurde von der Linkspartei und den Grünen initiiert. In dem beschlossenen Text heißt es:

„Die Bezirksverordnetenversammlung bekennt sich anlässlich der kriegerischen Aktionen des türkischen Staates in Rojava (Nordsyrien) ausdrücklich zur Städtepartnerschaft unseres Bezirks Friedrichshain-Kreuzberg mit unserer Partnerstadt Dêrik in Nordsyrien. Wir sorgen uns angesichts der völkerrechtswidrigen Kriegsaktionen der türkischen Regierung um die Unversehrtheit unserer Partner:innen.

Die BVV verurteilt die Bombardierung des Dorfes Teqil Beqil in unmittelbarer Nähe unserer Partnerstadt Dêrik durch türkische Kampfflugzeuge, bei der ein Elektroumspannwerk komplett zerstört wurde, so dass nun die Stadt und 65 umliegende Dörfer ohne Strom und Wasser sind. Der Pick-Up, in dem Menschen aus der Zivilbevölkerung zum Umspannwerk fuhren, um möglichen Opfern zu helfen, wurde in einer zweiten Angriffswelle bombardiert, wobei insgesamt neun Menschen starben und drei verletzt wurden.

Angriffe gegen die Zivilbevölkerung und lebenswichtige Infrastruktur sind eindeutig völkerrechtswidrig. Nicht nur in der Ukraine, sondern auch in Nordsyrien und anderenorts. Die BVV verurteilt jegliche völkerrechtswidrige Kriegshandlung, besonders gegen Zivilist:innen.

Die BVV spricht den Angehörigen der Opfer ihr Beileid und Anteilnahme aus. Das Bezirksamt wird gebeten, in einem Brief an die Ko-Bürgermeister:innen und unsere Ansprechpartner:innen in Dêrik die Anteilnahme des Bezirks und der BVV sowie unsere Solidarität mit unserer Partnerstadt zu übermitteln.

Die BVV teilt die Befürchtungen des Städtepartnerschaftsvereins, dass auch die Mobile Klinik, die der Verein zusammen mit einer Frauenstiftung vor Ort betreibt, zum Angriffsziel werden könnte. Dies darf nicht geschehen. Denn diese auch mit Spenden aus unserem Bezirk betriebene Klinik stellt die einzige Gesundheitsversorgung für Frauen und Mädchen in der näheren Umgebung dar. Die BVV verpflichtet sich, sich weiterhin für die Verbesserung der Lebensverhältnisse in und um Dêrik einzusetzen und die Arbeit des Städtepartnerschaftsvereins Friedrichshain-Kreuzberg – Dêrik e.V. zu unterstützen.

Begründung:

Wenn das Leben und die körperliche Unversehrtheit der Menschen in unserer Partnerstadt Dêrik bedroht sind, Zivilgesellschaft und zivile Infrastruktur zum Opfer kriegerischer Handlungen werden, die in eklatantem Widerspruch zum Völkerrecht stehen, dürfen wir als Partnerbezirk nicht schweigen.

Unbestritten ist, dass das Attentat in Istanbul am 13. November 2022 ein schrecklicher und durch nichts zu rechtfertigender Terrorakt war, der ohne Wenn und Aber zu verurteilen ist, den Opfern und Angehörigen der Opfer unser Mitgefühl gilt. Doch muss der Missbrauch eines solchen Terroraktes als Vorwand für völkerrechtswidrige Luftangriffe auf Zivilist:innen und zivile Infrastruktur ebenfalls als solcher benannt und verurteilt werden. Insbesondere wenn den Opfern solcher Angriffe keinerlei Beteiligung oder Mittäterschaft vorgeworfen werden kann.“

Elke Dangeleit: Angst und Schrecken in Dêrik

Die Bezirksverordnete der Partei DIE LINKE, Elke Dangeleit, hielt vor der Abstimmung eine sehr engagierte Rede. Die Politikerin steht in ständigem Kontakt mit den Menschen in Dêrik und beschrieb die Situation vor Ort: „Aktuell werden die Menschen in Nordsyrien und in unserer Partnerstadt Dêrik durch Drohnen, Bombenangriffe und die Androhung der Türkei mit Bodentruppen einzumarschieren, in Angst und Schrecken versetzt. Vorletzten Sonntag wurde ein Umspannwerk in direkter Nähe zu unserer Partnerstadt von türkischen Kampfflugzeugen zerstört. Der ehemalige Bürgermeister Feremez Hamo, den ja einige bei seinem Besuch 2019 kennengelernt haben, berichtete mir, Dêrik und 65 Dörfer seien seitdem ohne Strom. Zivilist:innen, die mit einem Pick-Up zum Anschlagsort eilten, um Verletzten zu helfen, wurden in einer zweiten Angriffswelle bombardiert. Elf Menschen starben, viele wurden verletzt. Feremez Hamo berichtete mir erschüttert kurz nach dem Bombardement aus dem Krankenhaus in Dêrik von bis zur Unkenntlichkeit verbrannten Leichen.

Unter den Opfern ist auch Hediye Abdullah, (auch ‚Mutter Rojava‘ genannt). Sie wurde bei dem Angriff getötet. Ich durfte diese Frau, Mutter von sechs Kindern, 2018 bei einem Besuch der Frauenorganisation in Dêrik kennenlernen. Bis zu ihrem Tod engagierte sie sich in ihrer Nachbarschaft für die Sicherheit der Bewohner:innen, besonders der Frauen. Sie besuchte die Familien im Kiez, schlichtete bei Familienstreits und wies gewalttätige Männer in ihre Schranken.

Gestern wurde bekannt, das auch noch das zentrale Gaswerk bei Dêrik zerstört wurde. 40 Prozent der Stromversorgung in der Region Cizire, in der auch Dêrik liegt, lief über das Gaswerk. Über eine Million Menschen sind nun ohne Strom und Gas.“

Zweifel an der Version der türkischen Regierung

Die türkische Regierung rechtfertige die Angriffe auf Nordsyrien als ‚Vergeltung‘ für das schreckliche Attentat auf der Istiklal in Istanbul, führte Elke Dangeleit weiter aus: „Wenige Stunden nach dem Attentat präsentierte sie eine Geflüchtete, die als angebliche Kurdin für das Attentat verantwortlich sein sollte. International wurde diese Version der türkischen Regierung von Expert:innen angezweifelt und als Vorwand bewertet, um das Gebiet der Selbstverwaltung anzugreifen. Mittlerweile ist bekannt, dass die vermutlich aus dem Maghreb stammende Frau, Verbindungen zu Islamisten in der Region Afrin und Idlib hatte und das Attentat auf das Konto der Islamisten gehen könnte.“

Die Türkei führt einen völkerrechtswidrigen Krieg

„Das NATO-Mitglied Türkei führt seit geraumer Zeit einen völkerrechtswidrigen Krieg gegen die kurdische, assyrische, armenische und andere ethnische Bevölkerung im Nachbarland Syrien, von dem auch unsere Partnerstadt betroffen ist. Auch Dêrik zahlt den Preis, wie so viele andere Städte im Gebiet der Selbstverwaltung: Einst zählte die Stadt 26.000 Einwohner:innen. Heute leben dort über 60.000 Menschen. Menschen, die aus den türkisch besetzten Gebieten Afrin, Serêkaniyê und Girê Spî vertrieben wurden.

Ich denke, es ist unsere Pflicht, uns als Bezirksparlament hinter unsere Partnerstadt zu stellen, gerade wenn nach dem Anschlag in Istanbul manche Vertreter:innen der ,großen Politik' meinen, es reiche, die Türkei zur ,Verhältnismäßigkeit' bei ihren Angriffen zu mahnen.

Abgesehen davon, dass sich alle kurdischen Organisationen von dem Anschlag und Angriffen auf die Zivilbevölkerung generell distanziert haben: Infrastruktur wie Krankenhäuser, Strom-, Gas- und Wasserversorgung zu zerstören, ist in jedem Fall nicht nur nicht verhältnismäßig, sondern – ebenso wie in der Ukraine – unrechtmäßig und muss verurteilt werden. Was die türkische Regierung mit ihren Angriffen bewirkt, nimmt die Ausmaße eines schleichenden Völkermordes an“, so Elke Dangeleit.