In den vergangenen acht Jahren Syrienkrieg wurden Hunderttausende Menschen getötet und Millionen in die Flucht getrieben. Viele dieser Schutzsuchenden machten sich auf den Weg nach Europa, wurden jedoch aufgrund des EU-Türkei-Abkommens vom türkischen Staat festgehalten. Es heißt, dass etwa vier Millionen Menschen aus Syrien in die Türkei geflohen sind. In der Türkei gibt es praktisch kein Recht auf Asyl, beanspruchen können es nur Menschen, die aus Europa in die AKP-Diktatur fliehen. Daher haben die Flüchtlinge aus Syrien einen unsicheren Gaststatus. Nachdem die AKP über Jahre die Schutzsuchenden vor allem als Druckmittel gegen Europa und zur demografischen Veränderung Kurdistans benutzte und sich als humanitäres Beispiel darzustellen versuchte, werden Schutzsuchende nun zu Feinden erklärt.
Wie die Türkei geflüchtete Menschen als Mittel zur Erpressung benutzt, wird an der letzten Aussage des Innenministers Süleyman Soylu deutlich, der drohte: „Wenn die Türkei ihre Aufgabe nicht mit Entschlossenheit erfüllt, dann wird keine europäische Regierung auch nur sechs Monate aushalten. Wenn sie es wollen, dann können wir es versuchen.“ Mittlerweile sind die Schutzsuchenden in der Türkei aber keine Gäste mehr, sondern als Feinde betrachtete Sündenböcke.
So erklärte der Gouverneur von Istanbul, dass nicht registrierte Schutzsuchende bis zum 20. August die Stadt verlassen müssten. Es finden regelrechte Jagden auf syrische Flüchtlinge statt. Immer wieder werden Schutzsuchende dazu gezwungen, Erklärungen zur „freiwilligen Ausreise“ zu unterzeichnen. Anschließend werden sie direkt in Bussen in Lager gebracht oder sofort als Siedler ins türkisch besetzte Efrîn oder die Al-Qaida-Hochburg Idlib.
ANF hat mit Ramazan Beyhan, dem Vorsitzenden des Menschenrechtsvereins Mazlum-Der (Verein für Menschenrechte und Solidarität mit den Unterdrückten), über die Lage syrischer Schutzsuchender in der Türkei gesprochen. Beyhan berichtet, dass in Istanbul mehr als 400.000 Geflüchtete registriert sind. Er geht zudem von einer großen Zahl nicht registrierter Schutzsuchender aus. „Im Rahmen des Kampfes gegen irreguläre Migration führt die Polizei ausgedehnte Identitätsfeststellungen durch. Menschen, die keinen Ausweis dabeihaben, werden aus Istanbul oder gleich ins Ausland abgeschoben. Wir haben entsprechende Anzeigen erhalten. Wir betrachten das als unmenschlich. Wenn jemand keinen Ausweis bei sich hat, sollte die Person wenigstens die Frist erhalten, ihn später vorzuzeigen. Und wenn eine Person abgeschoben wird, muss sie in ein sicheres Gebiet gebracht werden. Wir haben Klagen erhalten, dass die Schutzsuchenden auf dem gesamten Weg kein Essen oder Trinken erhalten haben“, so der Menschenrechtler.
Beyhan erklärt weiter: „Weil sie woanders sich und ihre Familien nicht ernähren können, reisen sie mit der Hoffnung, eine Arbeit vielleicht sogar im eigenen Beruf zu finden, nach Istanbul und schlagen sich dort durch. Das ist vollkommen verständlich. Diejenigen, die Straftaten begehen, werden bestraft, das ist klar. Aber alle Geflüchtete unter Generalverdacht zu stellen oder sie wie Kriminelle zu behandeln, weil sie laut reden oder in Gruppen unterwegs sind, ist schlichtweg nicht richtig.“
Zum Abschluss des Gesprächs wiederholte Beyhan die Worte, die er bereits auf einer Pressekonferenz zum selbigen Thema geäußert hatte: „Dieses Problem ist wahrhaftig eine große Frage. Heute leben hier Millionen Menschen, die ihre Heimat aus Furcht um ihr Leben verlassen haben. Für eine Lösung dieser Frage fällt der internationalen Gemeinschaft eine große Verantwortung zu. Aber sie tun nicht das, was sie für die Geflüchteten tun müssten. Es wäre notwendig, sie sicher unterzubringen. Der türkische Staat hat sie als Gäste bezeichnet. Aber dann sollte wenigstens die Beziehung zwischen Gast und Gastgeber eingehalten werden. Nach acht Jahren wird jetzt Flüchtlingsfeindlichkeit geschürt, die Menschen werden abgeschoben. Und das wirft natürlich auf die gesamten Bemühungen der Türkei in dieser Frage einen großen Schatten.“