Azadî: Wie Herr A. zum Gefährder wurde

Der Rechtshilfefonds Azadî e.V. schildert in seinem neuen Infodienst, wie ein seit zwanzig Jahren in Deutschland lebender kurdischer Familienvater in Stuttgart zum „Gefährder“ gemacht wurde.

Im vergangenen Jahr erhielt Herr A. einen Brief vom Regierungspräsidium Stuttgart, Abteilung Steuerung, Verwaltung und Bevölkerungsschutz, in dem auf über 50 Seiten begründet wird, warum man ihn aus der Bundesrepublik Deutschland auszuweisen gedenke und er acht Jahre nicht wieder einreisen oder sich hier aufhalten dürfe. Seine ursprüngliche Niederlassungserlaubnis sei erloschen, er besitze ab sofort keinen Aufenthaltstitel mehr, was ihn zur Ausreise verpflichte. Weil es aber hinsichtlich seines Heimatstaates Türkei ein Abschiebungsverbot (§ 60 Abs. 1 AufenthaltsG) gebe, werde gegen ihn keine Abschiebungsandrohung ergehen. Solange das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge den Widerruf der Flüchtlingseigenschaft sowie die Abschiebungshindernisse nicht überprüft habe, erhalte er eine Aufenthaltserlaubnis.

Liege eine Entscheidung vor, werde diese ins Schengener Informationssystem (SIS) zur Ausschreibung gegeben, wodurch alle Schengen-Staaten über das Einreiseverbot informiert seien.

Staatsterrorismus der 1990er-Jahre

Der Vater von sechs Kindern reiste im Jahre 2000 ins Bundesgebiet ein und beantragte Asyl. 1993 waren der heute 57-jährige Kurde und weitere Personen bezichtigt worden, Aktivisten der PKK zu sein. Er sei gezwungen worden, entsprechende Papiere zu unterschreiben und wurde daraufhin zu einer Haftstrafe von drei Jahren und neun Monaten verurteilt, wovon er drei Jahre verbüßt hatte. Wenige Monate nach seiner Entlassung sei er wieder festgenommen und mit der Tötung einer Person in Verbindung gebracht worden, obwohl er nichts damit zu tun gehabt hätte. Weil er angeblich Angehörige der PKK unterstützt und beherbergt haben soll, war er später erneut zwei Jahre inhaftiert. Nachdem er auf freien Fuß gesetzt wurde, habe der Kassationsgerichtshof in Ankara das Urteil bestätigt, woraufhin er seine Ausreise aus der Türkei organisiert habe.

Nachdem das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge eine Asylanerkennung abgelehnt hatte, ihm mehrmals verlängerte Aufenthaltsbefugnisse erteilt und ein Reiseausweis für Flüchtlinge ausgestellt wurde, besitzt er seit 2010 eine Niederlassungserlaubnis. Er war durchgängig berufstätig.

Im Jahre 2008 teilte ihm das Bundesamt mit, dass bei ihm weder die Voraussetzungen des § 51 Abs. 1 AusländerG gegeben seien noch Abschiebungsverbote gem. § 60 Abs. 2 bis 7 AufenthaltsG vorliegen. Seine Klage vor dem Verwaltungsgericht war erfolgreich und der Bescheid des Bundesamtes wurde rechtskräftig aufgehoben. Herr A. hätte zur Ruhe kommen können.

Schmutziges Geheimdienstgeschäft

Einige Jahre später aber trat das Landesamt für Verfassungsschutz Baden-Württemberg auf den Plan und meldete dem Regierungspräsidium eine „gerichtsverwertbare Erkenntnis“: Herr A. sei im Vereinsregister als Vorstandsmitglied des örtlichen kurdischen „PKK-nahen“ Kulturvereins eingetragen. Einmal in Fahrt meldete der Geheimdienst weitere „Erkenntnisse“ über die Teilnahme des Kurden an „Veranstaltungen zugunsten der PKK“. Darunter befand sich eine Protestdemonstration gegen die Verhaftung von HDP-Politiker*innen in der Türkei, auf der „permanent“ Parolen gerufen worden seien wie „Freiheit der HDP“, „Freiheit für Demirtaş“ oder „Freiheit für Öcalan und Kurdistan“.

Mit seiner Teilnahme am Protest gegen den Einmarsch türkischer Truppen in Efrîn im Januar 2018 hat hat Herr A. in den Augen des VS nicht etwa sein Grundrecht wahrgenommen. Vielmehr habe er sich dadurch zu einem Akteur des „Terrorismus“ gemacht. Hervorgehoben wird auch, dass an der Demonstration auch „Personen aus dem Umfeld deutscher und türkischer linksextremistischer Organisationen“ teilgenommen hätten. Hier missfielen dem VS die Parolen „Es lebe Efrîn“ oder „Deutsche Panzer raus aus Kurdistan“.

Den völkerrechtswidrigen Einmarsch der türkischen Armee, die Lieferung deutscher Waffen an die Türkei oder den Einsatz deutscher Panzer in Efrîn hält der VS offensichtlich für völlig normal. Um die Gefährlichkeit des Kurden und des kurdischen Kulturvereins noch zu untermauern, wird auszugsweise aus dem Bericht des VS zitiert, in dem „insgesamt 139 extremistischen Aktivitäten“, die teilweise 20 Jahre zurückliegen, aufgelistet sind, mit denen Herr A. allerdings nichts zu tun hatte.

Aus Herrn A. wird ein „Gefährder“

Die „Erkenntnisse“ rechtfertigen nach Auffassung des Regierungspräsidiums jedenfalls die Schlussfolgerung, dass der Kurde über mehrere Jahre die PKK, „eine terroristische bzw. den Terrorismus unterstützende Vereinigung“, unterstützt habe, insbesondere durch die Übernahme eines Vorstandspostens im Verein. Er habe dazu beigetragen, den strukturellen, emotionalen Zusammenhalt der PKK zu stärken und deren Ideologie zu verbreiten. Die Vorstandsfunktion stelle „für sich genommen bereits eine selbstständige Unterstützungshandlung“ dar, die ein Ausweisungsinteresse rechtfertige. Außerdem habe der Kurde „nicht erkennbar und glaubhaft“ von seinem „sicherheitsgefährdenden Handeln Abstand genommen“. Es sei vollkommen abwegig anzunehmen, dass er lediglich von seinem Recht auf freie Meinungsäußerung gemacht habe.

Vielmehr liege in seinem Fall eine „Gefährdung der freiheitlichen demokratischen Grundordnung bzw. der Sicherheit der Bundesrepublik Deutschland“ vor, weshalb von ihm „nach wie vor eine gegenwärtige Gefährlichkeit“ ausgehe, zumal er sich nicht aktiv von seinem „sicherheitsgefährdenden Handeln“ distanziert habe. Es genüge nicht, über einen längeren Zeitraum nicht an Veranstaltungen teilgenommen zu haben, sondern bedürfe „stets eindeutiger Erklärungen und Verhaltensweisen, die eine erkennbare Distanzierung aus innerer Überzeugung zum Ausdruck“ bringe. Aufgrund seines Verhaltens aber sei eine Ausweisung „verhältnismäßig und damit unerlässlich“.

Nicht deutschverwurzelt

Zu seinen Gunsten spreche, dass er anerkannter Flüchtling und im Besitz einer Niederlassungserlaubnis sei sowie über familiäre Bindungen im Bundesgebiet verfüge. Doch könne bei ihm nicht von einer „tiefgreifenden“ Integration gesprochen werde „aufgrund der häufigen Wechsel der Arbeitgeber und der Zeiten der Arbeitslosigkeit“ (!). Es sei ihm trotz seines über 19 Jahre währenden Aufenthaltes in der Bundesrepublik nicht gelungen, sich in der deutschen Gesellschaft zu verwurzeln, auch, weil er sich zugunsten der PKK betätigt habe. Deshalb sei die Ausweisung „grundsätzlich geeignet, weitere von Ihnen ausgehende Gefahren abzuwehren“.

Auf „freiem Fuß“ in Ketten gelegt

Um den „Handlungsspielraum“ von Herrn A. einzuschränken, zum Beispiel durch „Reisen zu Versammlungen, Veranstaltungen und Demonstrationen mit terrorismusunterstützendem Bezug“, verfügte das Regierungspräsidium eine regelmäßig polizeiliche Meldepflicht und eine räumliche Aufenthaltsbeschränkung auf das Stadtgebiet. Diese „Unannehmlichkeiten“ habe er durch seine Handlungen zugunsten der PKK „selbst heraufbeschworen“, die er hinnehmen müsse. Gegen diesen Bescheid hat der Verteidiger von Herrn A. Klage vor dem Verwaltungsgericht eingereicht.


Der Text ist dem aktuellen Infodienst von Azadî e.V. - Rechtshilfefonds für Kurdinnen und Kurden in Deutschland – entnommen. Der Infodienst erscheint monatlich und liefert einen informativen Überblick über juristische Verfahren und politische Hintergründe im Zusammenhang mit der kurdischen Bewegung in Deutschland.