AZADÎ: Erweiterte Strafverfolgung nach Türkei-Reise von Generalbundesanwalt

Nach den Razzien bei kurdischen Aktivisten im Saarland hat die deutsche Justiz nun auch eine in der Region wohnhafte Kurdin auf der Rückreise aus Rojava in die BRD festnehmen lasse. AZADÎ e.V. sieht politische Motive hinter der Repression.

Ist die verschärfte Strafverfolgung von politisch aktiven Kurd:innen in Deutschland ein Ergebnis des Türkei-Besuchs von Generalbundesanwalt Peter Frank? Diese Frage stellt sich der Kölner Rechtshilfefonds AZADÎ e.V. mit Blick auf eine neuerliche Repressionswelle, die derzeit durch die kurdische Community des Saarlandes rollt:

Im Zuge von Ermittlungsverfahren nach § 129b StGB gegen kurdische Aktivisten wurden am 18. Oktober auf Beschluss des Ermittlungsrichters beim Oberlandesgericht (OLG) Koblenz deren Privatwohnungen im Saarland sowie die Räume des Kurdischen Gesellschaftszentrums e.V. in Saarbrücken durchsucht.

Diese Maßnahme erfolgte auf der Grundlage der nach § 129b Abs. 1 Satz 3 StGB erforderlichen Strafverfolgungsermächtigungen des Bundesministeriums der Justiz und für Verbraucherschutz. Im Falle von Hamo A. wurde diese am 18.12.2022 erteilt, im Verfahren gegen Mahmut E. am 14.9.2022, bei Yahya G. am 9.10.2020.

Die Kurden werden verdächtigt, sich mitgliedschaftlich an einer „terroristischen Vereinigung im Ausland“ (hier PKK) beteiligt bzw. sie unterstützt zu haben. Die „Erkenntnisse“ basieren hauptsächlich auf Maßnahmen der Telekommunikationsüberwachung. Individueller Straftaten wird keiner der Betroffenen bezichtigt; alle befinden sich auf freiem Fuß.

Aktivisten zu „Terroristen“ stigmatisiert

Hamo A., deutscher Staatsbürger, soll laut OLG von Dezember 2020 bis Juni 2021 Vorsitzender des Kurdischen Gesellschaftszentrums e.V. (KGZ) in Saarbrücken gewesen sein und während dieser Zeit den damaligen Gebietsleiter unterstützt haben. Ihm wird ferner zum Vorwurf gemacht, für Veranstaltungen und Demonstrationen, z.B. gegen das in der Türkei drohende Verbot der HDP oder die Totalisolation von Abdullah Öcalan mobilisiert oder bei einem innerfamiliären Streit im Sinne einer für alle Beteiligten friedlichen Lösung vermittelt zu haben.

Gegen Mahmut E. wird ermittelt wegen des „Anfangsverdachts“ der Mitgliedschaft in bzw. Unterstützung der PKK. Er soll seit „mindestens Ende November 2021“ als „Raumverantwortlicher“ innerhalb des Gebietes Saarbrücken sowie als Mitglied einer Kommission für Organisationswesen tätig gewesen sein.

Gegen Yahya G. wird der Anfangsverdacht der Mitgliedschaft in bzw. Unterstützung der PKK erhoben. Er soll im Jahre 2017 die Leitung als Verantwortlicher des Raumes Völklingen übernommen und die üblichen Aufgaben durchgeführt haben wie die Durchführung jährlicher Spendenaktionen, die Organisierung von Veranstaltungen, Mobilisierung und Fahrten zu Großveranstaltungen oder von Treffen der Verantwortlichen des „PKK-Gebietes Saarland“ im Kurdischen Gesellschaftszentrum Saarbrücken. Als „Beweise“ werden in dem Beschluss des OLG Koblenz zur Durchsuchung der Wohnung von Yahya G. nicht nur überwachte Telefongespräche aufgeführt, sondern auch anonyme Hinweisgeber genannt, die sich offensichtlich an das Landesamt für Verfassungsschutz des Saarlandes bzw. die Generalstaatsanwaltschaft Saarbrücken gewandt haben, um eigene „Erkenntnisse“ über Spenden sammelnde Personen mitzuteilen.

Gegen Sadettin C. besteht laut Durchsuchungsbeschluss der „Anfangsverdacht“ der Mitgliedschaft in bzw. Unterstützung der PKK. Er soll seit mindestens Juni 2021 mutmaßlich eine „leitende Funktion“ innerhalb des Gebietes „Saarbrücken“ wahrgenommen haben. In diesem Rahmen sei er u.a. für das Organisieren von Veranstaltungen verantwortlich gewesen oder habe Spendenkampagnen beaufsichtigt.

Ausweitung der Repression durch Politik der Nadelstiche

Auffällig an diesen Fällen sind die erteilten Einzelermächtigungen. In den zurückliegenden Jahren basierte die Mehrzahl der 129b-Verfahren auf der Generalermächtigung des Bundesministeriums der Justiz und für Verbraucher (BMJV) zur Strafverfolgung nach §§129a/b vom 6. September 2011. Diese umfasste den Personenkreis angeblich hochrangiger PKK-Funktionsträger:innen wie Gebiets-, Regions- oder Deutschlandverantwortliche.

Die Erteilung von Einzelermächtigungen entspräche einer Ausweitung der Strafverfolgung nach §129b auf Funktionen unterhalb der Führungsebene wie sog. Raumverantwortliche oder anderweitig in die Organisation eingebundene Kurd:innen.

Mit der Entscheidung des Bundesgerichtshofs (BGH) vom Oktober 2010, auch die PKK als eine „terroristische“ Vereinigung im Ausland gem. §129b einzustufen, wurde den Behörden die Option eröffnet, im Prinzip alle politisch aktiven Kurdinnen und Kurden des Terrorismus zu beschuldigen und strafrechtlich zu verfolgen. Wie das Bundesamt für Verfassungsschutz in seinem aktuellen Jahresbericht mitteilt, soll es 14.500 PKK-Anhänger:innen in Deutschland geben. Weil diese nicht gleichsam alle mit Verfahren überzogen werden können, bleibt die Methode der Nadelstiche. Was gestern noch als Verstoß gegen das Vereinsgesetz geahndet wurde (was sehr häufig mit Verfahrenseinstellungen endet), kann dann als „terroristische“ Aktivität gelten – mit allen gravierenden Folgen für die Betroffenen. Ziel dieses Vorgehens ist es, die Menschen auf allen Ebenen der Struktur zu verunsichern, einzuschüchtern und davon abzuhalten, sich politisch nach ihren Vorstellungen zu betätigen.

Auswirkungen des Besuchs von Generalbundesanwalt Dr. Frank in der Türkei

Die Vermutung, dass die verschärfte Strafverfolgung das Ergebnis des Besuches von Generalbundesanwalt Dr. Peter Frank sein könnte, der sich vom 5. bis 7. Juli auf Einladung des Generalstaatsanwalts beim türkischen Kassationshof zu Gesprächen in Ankara und Istanbul aufgehalten hat, liegt durchaus nahe. Immerhin wurde er auch von Staatspräsident Recep T. Erdoḡan offiziell empfangen. Es bedarf wenig Phantasie sich vorzustellen, dass der Autokrat den „Kampf gegen den Terrorismus“ ins Zentrum des Gespräches gestellt und (noch) härtere Maßnahmen Deutschlands gegen die PKK und linke türkische Organisationen gefordert hat.

Zurückgekehrt vom Bosporus, hat der Generalbundesanwalt offenbar rasch den Beweis konsequenten Handelns antreten wollen, denn zwei Einzelermächtigungen datieren von September bzw. Oktober 2022. Sie belegen zudem, dass auch diese Koalition aus SPD, Bündnis 90/Die Grünen und FDP die antikurdische Position ihrer Vorgängerinnen fortsetzen will.

Dass es sich bei den Ermächtigungen um politische Entscheidungen handelt, zeigt, dass das Bundesjustizministerium (FDP) zwar die Federführung hat, aber an diesem Prozess auch das Bundesinnenministerium (SPD), Auswärtige Amt (Grüne) sowie das Bundeskanzleramt (SPD) beteiligt sind.

Deutsche Justiz lässt Kurdin Hafrah E. am Flughafen Brüssel festnehmen

Nur wenige Tage nach den Razzien im Saarland wurde bekannt, dass am 24. Oktober die Kurdin Hafrah E. (27) auf Veranlassung der deutschen Justiz und aufgrund eines Europäischen Haftbefehls am Flughafen Brüssel vorläufig fest- und in Auslieferungshaft genommen worden ist. Der Haftbefehl wurde vom Ermittlungsrichter des OLG Koblenz am 14. Juli erlassen. Die Kurdin mit deutscher Staatsangehörigkeit, geboren im saarländischen Lebach, soll auf der Rückreise von Rojava/Nordostsyrien nach Deutschland gewesen sein. Die deutschen Strafverfolgungsbehörden verdächtigen Hafrah E., sich an Aktivitäten der PKK-Jugendorganisation beteiligt und Propaganda betrieben zu haben.

Die Generalstaatsanwalt Saarbrücken (das Saarland verfügt nicht über ein OLG) bzw. das OLG Koblenz sind derzeit an vorderster Linie in der strafrechtlichen Verfolgung politisch aktiver Kurdinnen und Kurden. Deshalb muss davon ausgegangen werden, dass auch die Festnahme der Aktivistin in Brüssel dem saarländischen Gesamtkomplex zuzurechnen ist.

Hafrah E. befindet sich derzeit (noch) in der belgischen JVA Vorst/Berkendael und wird dort wie in Deutschland anwaltschaftlich vertreten.

Aufmerksam bleiben

Abzuwarten bleibt, ob die aktuellen Fälle eine Ausnahme von der Regel darstellen oder dahinter eine neue ausgeweitete Verfolgungsstrategie gesehen werden muss.

Seien wir aufmerksam.


Titelfoto: Offenes Treffen gegen Krieg und Militarisierung Stuttgart (OTKM)