Die Präsidentin des türkischen Ärzteverbands TTB, Şebnem Korur Fincancı, die vergangene Woche wegen ihrer wissenschaftlichen Äußerungen zu dem mutmaßlichen Einsatz von Nervengas gegen die kurdische Guerilla in Ankara verhaftet wurde, hat sich aus dem Frauengefängnis im Vollzugskomplex Sincan zu Wort gemeldet:
„Liebe Kolleg:innen, liebe Weggefährt:innen, ich hatte leider nicht mehr die Zeit, meine wissenschaftliche Stellungnahme zu den Hinweisen fertigzustellen, aber ich werde diese beizeiten nachliefern. Ich weiß, dass Ihr weiter dafür kämpfen werdet, wieder uns angemessene Arbeitsbedingungen und ein entsprechendes Arbeitsumfeld herzustellen. Auch wenn es mich schmerzt, nicht physisch bei euch sein zu können, bin ich im Herzen immer bei euch.
Ich hatte ohnehin Bedarf nach einer Ruhepause, seht meine Abwesenheit also als einen kurzen Urlaub an. Sobald ich mich ausruht habe, werde ich mich euch wieder anschließen, um unseren Kampf mit euch fortzusetzen. Die Unterschiede, die unüberwindbar scheinen, sind unser Reichtum, und die Solidarität, die ihr gezeigt habt, als ich verhaftet wurde, ist ein Spiegel dafür. Lasst uns weiterkämpfen, ohne nachzulassen, in Freundschaft und Solidarität."
Hintergrund des Strafverfahrens gegen Şebnem Korur Fincancı
Die international bekannte Medizinerin und Menschenrechtsaktivistin Şebnem Korur Fincancı ist am 27. Oktober in Ankara verhaftet worden, weil sie eine Untersuchung der Chemiewaffeneinsätze der türkischen Armee in Kurdistan befürwortet hat. Hintergrund des Strafverfahrens sind Äußerungen Fincancıs in einer Sendung des kurdischen TV-Senders Medya Haber zu dem mutmaßlichen Einsatz von chemischen Kampfstoffen durch die türkische Armee bei der Invasion in der Kurdistan-Region Irak (Südkurdistan). In der vor knapp zwei Wochen ausgestrahlten Sendung schilderte die Medizinerin ihre Eindrücke von Videoaufnahmen, die zwei sterbende Guerillakämpfer:innen nach dem Kontakt mit toxischen Substanzen zeigen (ANF berichtete). Die Betroffenen erlitten laut Angaben der Volksverteidigungskräfte (HPG) Lähmungen des Nerven- und Atmungssystems sowie Gedächtnisverlust.
Fincancı sagte, die gezeigten Symptome deuteten auf einen Einsatz von Nervenkampfstoffen hin, der einen Verstoß gegen das Übereinkommen über das Verbot chemischer Waffen (CWÜ) darstellen würde, und forderte eine unabhängige internationale Untersuchung. Danach startete eine Hetzkampagne, an der sich auch Staatschef Erdogan beteiligte. Muhammed Levent Bülbül, Abgeordneter der rechtsextremen MHP (Koalitionspartner der Erdogan-Partei AKP), griff die Äußerungen der Medizinerin am Donnerstag im türkischen Parlament auf und warf ihr „Herabwürdigung des Staates“ vor. Den TTB bezeichnete Bülbül als „Sprachrohr der PKK“, dessen Mitglieder dürfe man nicht als „Türken“ bezeichnen. „Wirkliche und wahrhaftige türkische Ärzte würden niemals Verrat begehen und Verräter unterstützen“, sagte Bülbül. Die Strafverfolgungsbehörden müssten umgehend Schritte einleiten, um eine Bestrafung aller Personen zu gewährleisten, die sich im Zusammenhang mit Vorwürfen über Chemiewaffeneinsätze der Türkei des Verrats schuldig machten.
Şebnem Korur Fincancı kritisierte in der Sendung bei Medya Haber auch, dass einer Delegation der ärztlichen Friedensorganisation IPPNW kürzlich der Zugang in die von türkischen Chemiewaffeneinsätzen betroffenen Regionen in Südkurdistan verweigert wurde. Der ehemalige UN-Biowaffeninspekteur Dr. Jan van Aken aus Deutschland und Dr. Josef Savary, Präsident der IPPNW Schweiz, waren Ende September in der Region, um den Vorwürfen nachzugehen, wonach die Türkei in ihrem Krieg gegen die PKK das Chemiewaffenverbot verletzt. Die Autonomieregierung der KRI hatte allerdings eine Untersuchung vor Ort unterbunden. Der Delegation liegen laut einem Bericht dennoch Hinweise vor, die auf den Einsatz von Tränengas und improvisiert produzierte chemische Agenzien wie Chlorgas deuten.
Trotz drohender Verhaftung aus Deutschland in die Türkei zurückgekehrt
Şebnem Korur Fincancı ist 1959 in Istanbul geboren. Sie ist eine renommierte Forensikerin und Vorsitzende des türkischen Ärzteverbands (TTB) sowie Vorstandsmitglied der Menschenrechtsstiftung in der Türkei (TIHV). 2018 wurde ihr der Hessische Friedenspreis verliehen. Am 22. Oktober sprach sie auf der Konferenz der Betroffenen in Köln über die Situation der Menschenrechte in der Türkei. Trotz der drohenden Verhaftung kehrte sie am nächsten Tag in die Türkei zurück. Zuvor hatte sie der Generalstaatsanwaltschaft Ankara über ihren Rechtsbeistand mitteilen lassen, in dem gegen sie eingeleiteten Strafverfahren zu einer Aussage bereit zu sein.