In der Türkei hat eine Äußerung von Staatspräsident und AKP-Chef Tayyip Erdogan über angebliche Machtkämpfe in der kurdischen Bewegung diverse Reaktionen ausgelöst. „Der in Edirne wird dem auf Imrali Rechenschaft ablegen müssen“, sagte Erdogan vor zwei Wochen auf einer Fraktionssitzung seiner Partei in Ankara. Mit „der in Edirne“ ist der seit über fünf Jahren in der gleichnamigen Stadt in der Westtürkei inhaftierte ehemalige HDP-Vorsitzende Selahattin Demirtaş gemeint, auf der Gefängnisinsel Imrali wird PKK-Gründer Abdullah Öcalan seit knapp 23 Jahren in Isolationshaft festgehalten.
Ömer Öcalan ist Abgeordneter der HDP und Neffe von Abdullah Öcalan. Er sagt, dass Erdogan für den Machterhalt zu allem bereit ist. In der Türkei herrsche bereits Wahlkampfstimmung und alle Parteien stellten ihre Positionen anhand ihrer Einstellung zur kurdischen Frage dar, erklärt der HDP-Politiker gegenüber ANF. Mit diesem Thema werde unweigerlich auch die sogenannte „Lösungsphase“ assoziiert, während der bis 2015 direkte und indirekte Gespräche zwischen dem türkischen Staat, Abdullah Öcalan, einer HDP-Delegation und PKK-Vertreter:innen im Qendîl-Gebirge stattgefunden haben.
In diesem Zusammenhang werde sich in der kommenden Zeit zeigen, ob Erdogans Äußerung eine strategische oder taktische Offensive darstelle, so Ömer Öcalan: „Wenn es um eine notwendige Abrechnung oder vielmehr eine Selbstkritik geht, müssten der Staatspräsident und die Regierung den ersten Anfang machen. Um dann herauszufinden, was Abdullah Öcalan denkt, müssen die Tore von Imrali geöffnet werden. Seine Anwältinnen und Anwälte und seine Angehörigen müssen Kontakt zu ihm aufnehmen können.“
Öcalan weist darauf hin, dass es sich bei diesem Thema um eine seit über vierzig Jahren andauernde Problematik handelt und in dieser Zeit viel Blut geflossen ist. Zehntausende Menschen hätten ihr Leben verloren, die Angelegenheit könne nicht für politische Berechnungen missbraucht werden, sagt der kurdische Politiker: „Wir akzeptieren diesen illegitimen Umgang nicht. Bei der Frage, woran der Lösungsprozess gescheitert ist, müssen alle zuerst sich selbst kritisieren. Die Pflicht und Verantwortung liegt jedoch in erster Linie bei der Regierung und Erdogan ist Regierungschef. Wenn von dieser Seite eine aufrichtige Selbstkritik erfolgt, müssen auch alle anderen Akteure sich für die eigenen Fehler in der Lösungsphase kritisieren. Wenn Erdogan jedoch seine Offensiven nach seiner wackelnden Präsidentschaft, der Wirtschaftskrise und seinen Umfragewerten ausrichtet, finden wir das falsch und kritisieren es.“
Ohne Kommunikation mit Imrali ist alles Spekulation
Abdullah Öcalan befindet sich auf Imrali in strikter Isolation, betont sein Neffe. Solange die Tore von Imrali geschlossen bleiben, bleibt alles Spekulation. „Letztendlich ist es Erdogan, der die Isolation auf Imrali seit Jahren in verschärfter Form beibehält“, sagt Ömer Öcalan. Zu den Gerüchten über mögliche Gespräche auf der Gefängnisinsel erklärt er: „Der Staat oder die Regierungsbevollmächtigen können jederzeit Gespräche führen und die Isolation anordnen oder aufheben. Abdullah Öcalan befindet sich seit dem 15. Februar 1999 unter ihrer Aufsicht im Hochsicherheitsgefängnis Imrali. Wenn Gespräche stattfinden, muss das von Abdullah Öcalan bestätigt werden. Ob und worüber möglicherweise gesprochen wird, ist kein Thema, über das wir spekulieren sollten, das wäre nicht richtig. Auch wir wissen nicht mehr als die Bevölkerung. Wir haben keine Informationen darüber, was auf Imrali geschieht, auch nicht über seine Gesundheit und sein Leben. Es sieht jedoch danach aus, als ob diese Situation in der kommenden Zeit weiter thematisiert werden wird.“
Niemand profitiert von der Isolation
Wesentlich sei jedoch der unethische Zustand, dass über Abdullah Öcalan gesprochen wird, ohne ihm selbst ein Rederecht zuzugestehen, sagt Ömer Öcalan: „Außer Abdullah Öcalan selbst reden alle, von links nach rechts. Manche äußern sich über Twitter, andere am Redepult im Parlament oder auf höchster Ebene. Das wesentliche Problem ist dabei, dass es keinen Kontakt zu Abdullah Öcalan gibt. Er kann sich nicht äußern, aber alle reden über ihn. Das ist politisch und rechtlich unethisch. Während die kurdische Frage mit ihren wirtschaftlichen, politischen und sozialen Konsequenzen einschließlich von Toten, Verhaftungen, Verboten und Vertreibung weiterhin nichts von ihrer Aktualität verloren hat, können alle außer Abdullah Öcalan ihre Argumente vorlegen. Er ist jedoch der wichtigste Ansprechpartner für eine Lösung dieser Frage. Trotzdem wird er von der Außenwelt isoliert. Es ist bei diesem Thema offensichtlich, dass niemand etwas gewinnen kann, wenn Abdullah Öcalan kein Rederecht bekommt und die Isolation aufrecht erhalten wird.
Selbst TV-Sender, die sich als oppositionell betrachten, sprechen nicht etwa die Isolation und die Verhinderung des Rederechts an. Mit ihrem beleidigenden Sprachstil fördern sie die stattfindende Polarisierung. Das Thema artet ungeachtet seiner politischen Ernsthaftigkeit in Demagogie aus. Es gibt nichts, was Erdogan nicht tun würde, um an der Macht zu bleiben. Gerade deshalb muss mit dieser Angelegenheit ernsthaft umgegangen werden. Leider können sich alle äußern, nur Abdullah Öcalan nicht. Fakt ist: Es gibt ein spezielles Imrali-Regime, in dem Abdullah Öcalan isoliert wird.“
Öcalan hat immer auf das Recht verwiesen
Abdullah Öcalan lehne rechtswidrige Methoden ab, das habe er auch bei seinem nach wenigen Minuten unterbrochenen Telefonat mit seinem Bruder Mehmet Öcalan am 25. März 2021 zum Ausdruck gebracht, sagt der HDP-Abgeordnete weiter: „Bei diesem kurzen Gespräch hat Abdullah Öcalan gesagt, dass ein derartiges Telefonat rechtlich nicht zugelassen ist. Er sagte: Ihr macht einen Fehler. Er war aufgebracht und wollte Besuch von seinen Anwältinnen und Anwälten. Dieses nach vier oder fünf Minuten unterbrochene Gespräch war eine vom Gefängnisleiter auf Imrali hergestellte Telefonverbindung zum Justizgebäude in Urfa. Ich habe noch nie in der politischen Geschichte der Türkei oder im Zusammenhang mit dem Strafvollzug von etwas ähnlichem gehört. Das Vorgehen entsprach nicht der normalen Prozedur und dagegen richtete sich Abdullah Öcalans Reaktion. Er war wütend und sagte: ,Das ist nicht rechtlich, nicht gesetzlich. Ich möchte, dass sofort meine Anwälte kommen. Es handelt sich um eine ernste Angelegenheit und meine Situation ist eine rechtliche Situation.' Er hat eigentlich immer von Recht gesprochen und es in den Vordergrund gestellt. Bei den Gesprächen während der Lösungsphase sagte er, dass es bei Themen wie den Fahrten der HDP-Delegation nach Imrali eine rechtliche Grundlage geben müsse. Es ist allgemein bekannt, was er damals gesagt hat: ,Ihr müsst einen rechtlichen Rahmen schaffen und ihn im Parlament verabschieden lassen'.“
„Die kurdische politische Bewegung ist so geschlossen wie nie zuvor“
Sollte es sich bei der Andeutung von Erdogan um einen Spaltungsversuch innerhalb der kurdischen politischen Bewegung handeln, werde dieser keine Entgegnung finden, betont Ömer Öcalan. Die Bewegung sei so geschlossen wie noch nie zuvor in ihrer Geschichte.
Derartige Spaltungsversuche habe es schon häufig gegeben, keiner davon sei erfolgreich gewesen, so der HDP-Abgeordnete Ömer Öcalan abschließend: „In den letzten dreißig Jahren gab es osmanische Intrigen dieser Art. Diese Methode wird auch heute in der Politik beibehalten. Als Mittel der psychologischen Kriegsführung wird versucht, in der Öffentlichkeit ein Bild von unserer Partei, unseren Abgeordneten oder unseren ehemaligen Vorsitzenden zu konstruieren. Die Geschlossenheit der kurdischen politischen Bewegung ist jedoch höher als je zuvor. Alle setzen den Fokus auf eine Lösung und treten motiviert für einen würdevollen Frieden ein. Sie beharren auf Demokratie und sind mit dieser Perspektive auch zu einer demokratischen Kraft im Mittleren Osten geworden. Daran können auch die Äußerungen von Erdogan oder der Opposition nichts ändern. Die CHP macht jetzt Helden aus inhaftierten Freunden von uns, aber sie hat vor sieben Jahren selbst dazu beigetragen, dass ihre Immunität aufgehoben wurde. Jetzt tut sie dasselbe mit unserer Abgeordneten Semra Güzel. Das sind billige Schachzüge. Die Kurdinnen und Kurden bleiben eine demokratische Kraft und beharren mehr denn je auf demokratischer Politik. Wir sehen die Lösung in der Demokratie.“