Abdullah Öcalan nutzte 2003 ein kurioses Strafverfahren in Athen als Möglichkeit, schriftlich das Wort zu ergreifen, was ihm sonst aufgrund strengster Isolationshaftbedingungen verwehrt ist. In seiner Eingabe an das Gericht wendet er sich unter dem Titel „Plädoyer für den freien Menschen“ nicht nur gegen engstirnigen Nationalismus und formuliert die Vision einer demokratisch-ökologischen Gesellschaft und eines demokratischen Mittleren Ostens, in dem sich Kurdinnen und Kurden mit ihrer eigenen kulturellen und politischen Identität frei artikulieren können. Er nahm dieses Verfahren auch zum Anlass, sich zur Fundamentlegung des internationalen Komplotts gegen ihn zu äußern.
In einem völkerrechtswidrigen Piratenakt wurde Abdullah Öcalan im Februar 1999 auf die türkische Gefängnisinsel Imrali verbracht, wo er bis heute in nur selten unterbrochener völliger Isolation gefangen gehalten wird. Vorangegangen war dieser Verschleppung eine lange Odyssee des Vordenkers der kurdischen Befreiungsbewegung, der durch türkischen Druck aus seinem Exil in Syrien vertrieben worden war. Öcalan begab sich auf die Suche nach einem Ort, an dem er politisches Asyl bekommen und die Kurdistan-Frage auf die Tagesordnung der internationalen Politik setzen konnte. Russland, Griechenland, Italien wurden Stationen dieser Reise, doch wo immer sich eine Verschnaufpause abzeichnete, intervenierte die US-Regierung, die ihrem türkischen Partner den gesuchten Staatsfeind in die Arme treiben wollte. Öcalan endete schlussendlich in der griechischen Botschaft im kenianischen Nairobi, nachdem deutsch-italienische Initiativen für einen Prozess vor einem internationalen Gericht abgewürgt worden waren.
Dort landete am 14. Februar 1999 ein Flugzeug mit malaysischem Hoheitszeichen, in dem sich ein Kommando des türkischen Geheimdienstes MIT befand. Öcalan wurde in die Maschine verschleppt und via Tel Aviv nach Istanbul geflogen. Die kurdische Bewegung geht von einer Mittäterschaft von CIA und Mossad aus und spricht deshalb bis heute von einem „internationalen Komplott“, das nicht nur gegen Öcalan gerichtet gewesen sei, sondern gegen die gesamte Unabhängigkeitsbewegung. Griechenland kam bei dem Komplott die Rolle des Handlangers zu.
Einer Einladung griechischer Politiker folgend war Öcalan nach seiner Ausreise aus Syrien im Herbst 1998 in das Heimatland der Antike gereist. Im Mai 2003 sah er sich nun einer Anklage in Athen wegen der vermeintlich illegalen Einreise und der Zuwiderhandlung gegen griechische Nationalinteressen ausgesetzt. Das Verfahren geriet jedoch schnell zur Farce. Zu deutlich war die Einmischung griechischer Politik, zu klar war ihr Beweggrund: Die Ablenkung von der eigenen Verantwortung an der Verschleppung Öcalans. Nach einem Monat endete der Prozess mit Freispruch in allen Anklagepunkten. Der „Kurdenführer“ hatte die Machenschaften seiner einstigen Gastgeber bloßgestellt und gleichzeitig realistische wie praktikable Lösungsvorschläge für die kurdische Frage unterbreitet.
„Plädoyer für den freien Menschen“ ist deshalb nicht nur ein zeithistorisches Dokument. Es ist die Essenz der Perspektive, die 2003 den Paradigmenwechsel der kurdischen Befreiungsbewegung einleitete. Noch während das Athener Verfahren lief, druckte der Istanbuler Çetin-Verlag die türkische Originalfassung als Buch ab. Auf Deutsch erschien das Werk erstmals 2005. Inzwischen ist „Plädoyer für den freien Menschen“ auch als Hörbuch erhältlich. Die Internationale Initiative „Freiheit für Abdullah Öcalan – Frieden in Kurdistan“, die Öcalans Bücher übersetzt und herausgibt, bietet es seit Kurzem kostenlos auf der Seite https://archive.org/details/pladoyer-fur-den-freien-menschen_202308 zum Download an.