KCK: Ohne die freie Frau kann es keine freie Gesellschaft geben

Bei der PKK war die Partizipation von Frauen von Beginn an zentral. Die Überwindung des Patriarchats ist im Programm als elementarer Schwerpunkt im Kampf gegen den Kapitalismus und zur Errichtung einer befreiten Gesellschaft verankert.

Seit der Gründung der Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) im Jahr 1978 steht die Befreiung der Frau aus der traditionellen patriarchalen Gesellschaft im Zentrum aller Anstrengungen. Schon in ihrem ersten Programm forderte die PKK volle Gleichheit von Männern und Frauen in allen sozialen und politischen Aspekten. Denn die kurdische Freiheitsbewegung sah die Unterdrückung von Frauen von Anfang an nicht als Nebenwiderspruch, sondern als tragenden Pfeiler des Kolonialismus in Kurdistan. Die Analyse lautet, dass die Frau die unterdrückteste Nation und das versklavteste Wesen ist. Erst mit ihrer Befreiung können entscheidende Schritte im Kampf gegen den Kapitalismus gegangen werden. Die Überwindung des Patriarchats ist somit als elementarer Schwerpunkt zur Errichtung einer befreiten Gesellschaft verankert.

Die Positionen der PKK zur Frauenbefreiung sind auch Thema im fünften und vorletzten Teil des Interviews mit den KCK-Vorsitzenden Besê Hozat und Cemil Bayık im Onlineportal Libyajamahiriya:

Die Befreiung der Frau und deren Freiheit stellen ein wichtiges Thema für die kurdische Bewegung dar. Abdullah Öcalan hat zu Recht darauf hingewiesen, dass die Befreiung der Gesellschaft ohne die Befreiung der Frau unmöglich ist. Welche Errungenschaften und Erfolge hat die kurdische Bewegung in diesem Bereich erreicht? Wie sieht ihre Vision bezüglich der Freiheit der Frau aus?

Rêber Apo (Abdullah Öcalan) spricht davon, dass die Gesellschaft nicht befreit werden kann, wenn die Frau nicht befreit wird. Doch geht sein Blick auf die Frau weit darüber hinaus. Solange die gesamte Gesellschaft nicht basierend auf der Freiheit der Frau – der damit verbundenen Linie und dem Geist – ein soziales, kulturelles und politisches Leben entwickelt, kann die Frau nicht wirklich frei sein. Denn die Frau wurde zu einem Geschlecht gemacht, dass als Teil der gesellschaftlichen Realität versklavt, unterdrückt, ausgebeutet und ausgegrenzt wird. Von daher muss die gesamte Gesellschaft entsprechend der Linie, die auf die Freiheit der Frau abzielt, geformt werden. Nur dann können sowohl die Gesellschaft, als auch die Frau frei sein. Die Freiheit der Frau ist die Mutter aller Freiheiten. Prägt sie erst einmal das gesamte Leben, also alle Formen der Freiheit, dann werden die Frau und die Gesellschaft vollständig frei sein. Um besser verständlich zu machen, welch enorme Bedeutung der Frauenbefreiung zukommt, hat Rêber Apo davon gesprochen, dass die Freiheit der Frau noch vor der Freiheit der Nation und Klasse kommt. Denn die erste Form der Unterdrückung, Versklavung und Ausbeutung begann auf dem Rücken der Frau. Deshalb können wir nur durch die Freiheit der Frau an die Wurzel von Sklaverei und Ausbeutung gelangen. So wird es uns gelingen, die Grundlage aller Formen der Sklaverei zu vernichten und in allen Bereichen des Lebens Freiheit zu erreichen.

Frauen haben die Gesellschaft als Ganzes und den Mann verändert

In Kurdistan waren es die Frauen, die in vorderster Reihe an den Volksaufständen teilnahmen. Im Mittleren Osten geschah es damit zum ersten Mal, dass Frauen auf diesem Niveau an der Spitze einer gesellschaftlichen Bewegung standen. All das hat nicht nur die Frau, sondern auch die Gesellschaft als Ganzes und den Mann verändert. Denn solange der Mann sich nicht verändert, kann gesellschaftliche Freiheit im wirklichen Sinne nicht erreicht werden. Alle ausbeuterischen und unterdrückerischen Systeme, dazu zählt auch die kapitalistische Moderne, stützen sich auf die Mentalität des hegemonialen Mannes. Aus diesem Grund ist es für die Überwindung all dieser Ausbeutungs- und Unterdrückungssysteme und ihrer aktuellen Vertreterin – der kapitalistischen Moderne – sehr, sehr wichtig, dass auch der Mann sich verändert. Denn es sind Gesellschaftssysteme, die auf der Mentalität des hegemonialen Mannes basieren. Die Frau spielt also im eigentlichen Sinn ihre Rolle als Mutter, indem sie den Mann verändert und auf dieser Grundlage die Veränderung der gesamten Gesellschaft erreicht. Der Umstand, dass die Frau bei allen Entwicklungen in Kurdistan die Hauptrolle bzw. die Mutterrolle spielt, bringt diese Realität in aller Deutlichkeit zum Ausdruck. Die Frauen, die in Kurdistan auf die Straßen gegangen sind und die Volksaufstände angeführt haben, sind später in die Berge gegangen und haben so ihren Weg fortgesetzt. Innerhalb der Guerilla hat sich eine enorme Frauenkraft entwickelt. Es wurden Fraueneinheiten, Kommandantinnen und die Frauenarmee erschaffen. Eine Frauenpartei wurde gegründet. So ist eine Realität der Frau zum Vorschein getreten, in der diese sich vollständig autonom organisiert, selbst leitet und eigenständig Krieg führt. Neben den gemeinsamen Planungen, Aktionen und der gemischten Kommandantur haben sich die Frauen zu einer eigenen Guerilla-Armee entwickelt. In der allgemeinen Letungsebene sind stets auch Kommandantinnen vertreten. Es gibt eine gemeinsame Guerillaarmee, die gegen den Feind kämpft. Denn der Erfolg wird durch die gemeinsame Organisierung, Planung und Aktion erreicht. Doch daneben existiert auch die autonome Organisierung und das eigene Leben der Frau. Sie wählen selbst ihre Kommandantinnen aus und bestimmen eigenständig ihre Aufgaben, ihr Einsatzgebiet und ihren Arbeitsbereich. Entscheidungen, die Frauen betreffen, werden ohnehin von der Frauenleitung und den Frauenstrukturen gefällt. Diese Art der Frauenorganisierung ist sehr wichtig.

Neben der Gleichberechtigung der Frau im Bereich der gesellschaftlichen und politischen Organisierung nimmt sie auch am organisierten Leben und Kampf teil. Oft besteht die Mehrheit von Leitungsmitgliedern eines Gremiums aus Freundinnen. Weil sie sich selbst organisieren, haben sie im gesellschaftlichen und politischen Leben deutlich an Einfluss gewonnen. Es ist einmalig, dass Frauen als Mitglieder einer Freiheitsbewegung ihre eigene Partei gründen. Auf diese Weise vertiefen sie ihre ideologischen Diskussionen über die Freiheit der Frau. Auch ihre Analysen der politischen Lage entwickeln sie im Rahmen dieser ideologischen Diskussionen. Durch ihre autonomen Organisationsstrukturen steigern die Frauenstrukturen zugleich stetig ihr Wissen und ihre Erfahrungen bezüglich Aspekten wie Leitung, Organisierung und die eigenständige Lösung von Problemen. Das Selbstvertrauen der Frauen wird dadurch gesteigert, dass die Probleme, die in der Frauenbewegung entstehen, im Rahmen der eigenen Organisierung und Leitung der Frauen gelöst werden. Es ist von großer Bedeutung, dass sie im männlich-hegemonialen System ihre eigene Willenskraft entwickeln. Der Umstand, dass die kurdische Frauenbewegung sich auf eine autonome Frauenpartei stützt, spielt eine sehr wichtige Rolle dabei, dass sie heute eine sehr einflussreiche und führende Position in der weltweiten Frauenbewegung einnimmt. Solch eine Frauenpartei lässt die Frauen zu einer Kraft werden und erhöht ebenso ihr Gewicht und den Einfluss in den allgemeinen ideologischen und politischen Kämpfen. Diese Tatsache beweist, dass die Frau sich nicht zu einer wirklichen Kraft entwickeln wird, wenn sie sich nicht autonom organisiert. Nur auf gesetzlicher Ebene die Gleichberechtigung und Freiheit der Frau zu garantieren sorgt weder dafür, dass die Frau vollständig frei wird, noch lässt es sie einen eigenen Willen entwickeln. Wenn sich Gleichheit und Freiheit auf eine Organisierung wie diese und solch einen Willen stützen, haben sie eine wirkliche Bedeutung. Dies befreit nicht nur die Frau, sondern spielt eine entscheidende Rolle dabei, dass die gesamte Gesellschaft frei wird und ein demokratisches Leben führt. In diesem Sinne wird es für die Befreiung der gesamten Menschheit und für die Ermöglichung eines demokratischen Lebens entscheidend sein, die Frauenpartei als wichtigste ideologische und politische Struktur für die Befreiung der Gesellschaft zu begreifen. Genauso wichtig wird es sein, die Frauenpartei auf dieser Grundlage weiter zu entwickeln und diesem autonomen Parteiverständnis nicht nur in Kurdistan, sondern auf der ganzen Welt zum Durchbruch zu verhelfen.

Genderparitätische Doppelspitze 

Das System des Ko-Vorsitzes bzw. das Prinzip der gleichberechtigten Vertretung hat im politischen Bereich eine Revolution ausgelöst. Es hat der Politik einen demokratischen und freiheitlichen Charakter verliehen und damit einen großen Beitrag zur Demokratisierung der Gesellschaft geleistet. Insbesondere die Frauen, deren Blick auf ein freies und demokratisches Leben gerichtet ist, setzen sich für all diese Errungenschaften ein und führen einen enormen Kampf dafür, dass sich die genderparitätische Doppelspitze verstetigt und in der Gesellschaft verbreitet. Da der Kampf für die Freiheit der Frau heute in Kurdistan alle Bereiche des Lebens erfasst hat, ist unser Freiheitskampf unbesiegbar geworden. Denn der Kampf der Frauen für die Freiheit erweitert und vertieft den allgemeinen Freiheitskampf auf gesellschaftlicher Ebene.

Jineolojî: Die Wissenschaft der Frau

Das wichtigste Merkmal der Entwicklung der kurdischen Frauenbewegung besteht darin, dass sie auf der Basis der Frauenbefreiungsideologie und der Freiheitslinie von Rêber Apo eine Wissenschaft der Frau entwickelt hat. Mit anderen Worten: Die Frauenwissenschaft – also die „Jineolojî” – sorgt dafür, dass alle Arbeiten der Frauen auf einer richtigen und wissenschaftlichen Grundlage geschehen. Es ist offensichtlich, dass die bisher geschriebene Geschichte der verschiedenen Gesellschaften unzureichend und voller Mängel ist. Der Großteil der Gesellschafts- und Menschheitsgeschichte lässt zu wünschen übrig. Die Jineolojî korrigiert diese falsche, unzureichende und mangelhafte Schreibung von Geschichte und Gesellschaft. Dadurch wird sie es der Menschheit und den verschiedenen Gesellschaften ermöglichen, ihre eigene Geschichte samt all der Fehler und Mängel kennenzulernen und ihre Zukunft besser zu gestalten. In diesem Sinne ist die Jineolojî eine der größten mentalen Revolutionen der Menschheitsgeschichte. Im Verlauf der Menschheitsgeschichte kam es zu vielen mentalen Revolutionen und Entwicklungen. Doch sie alle waren unbefriedigend und blieben damit unvollständig. Die Jineolojî ist eine Gesellschaftswissenschaft, die all diese Fehler und Mängel behebt und die Ideengeschichte damit auf ein festes Fundament stellt. Für die Gesellschaftswissenschaften stellt sie die größtmögliche Revolution dar. Ohne die Entwicklung der Jineolojî und die vollständige Offenlegung der Geschichte der Frau kann kein einziger gesellschaftlicher und historischer Nachweis richtig und vollständig sein. Um die Gesellschaftswissenschaften und die Menschheitsgeschichte richtig zu verstehen, hat Rêber Apo zuallererst die Realität der Frau, also die Jineolojî entwickelt. Er hat sich mehr als jede andere Person, die sich der Wissenschaft verbunden fühlt und sich für die Freiheit der Frau einsetzt, mit diesem Thema auseinandergesetzt. Auch wenn die Jineolojî als Wissenschaft noch am Anfang ihrer Entwicklung steht, hat sie bereits jetzt neue und weite Horizonte in den Köpfen der Menschen erschaffen. Dadurch hat sie erreicht, dass die Gedanken der Menschen befreit werden. Das wird dazu führen, dass der Mensch all die Ketten zerschlägt, die sein Leben prägen, und die Menschheit sich befreit. Wenn die gesamte Menschheit ein freies und demokratisches Leben erreichen möchte, muss sie sich in erster Linie der Jineolojî annehmen und auf diese Weise das aus Sicht der Menschheit Richtige und Falsche klar erkennen. Sobald ihr das gelungen ist, wird sich die Zerschlagung aller Rückständigkeit, Unterdrückung, Ungerechtigkeit und aller Hindernisse für die Menschheit beschleunigen. Zudem wird die gesellschaftliche Freiheit und das demokratische Leben, die sich beide gemeinsam auf die Freiheit der Frau stützen, zur grundlegenden Lebensform der gesamten Menschheit werden.

Hinzu kommt, dass unsere Frauenbewegung nicht nur die kurdischen Frauen, sondern alle Frauen im Mittleren Osten stark beeinflusst. Die kurdischen Frauen haben einen großen Einfluss auf den Freiheitskampf der Frauen in der Türkei, der arabischen Welt und dem Iran. Die Frauen in der Türkei sind heute sehr dynamisch und lebendig, wodurch auch die Frauen in der arabischen Welt beeinflusst werden. Sie werden sich immer mehr zu einer Kraft entwickeln, die als Motor der Veränderung den gesamten Mittleren Osten erfassen werden.

Unsere Vision für die Zukunft der Frau ist sehr klar: Das 21. Jahrhundert wird das Jahrhundert der Frau sein. Frauen werden das gesamte Leben maßgeblich prägen. Freiheit und Demokratie werden durch die Frau vertieft und erweitert werden und dadurch ihre wirkliche Bedeutung erlangen. Alles, was nicht die Spuren der Frau trägt und die Freiheit der Frau ermöglicht, wird unvollständig bleiben. Die Menschheit ist heute nur halb sie selbst. Diesem unvollständigen Leben fehlt es an den entscheidenden Dingen. Das Leben mit der freien Frau wird viel aufregender, farbenfroher und schöner sein. Es wird dementsprechend zu riesigen Entwicklungen im Bereich des politischen, gesellschaftlichen und kulturellen Lebens kommen. Die Wirtschaft wird vollständig im Einklang mit der Natur sein. Die Welt, in der die Freiheit der Frau erreicht wurde, wird keine Kriege kennen. Sie wird von einem freien, gleichberechtigten und demokratischen Leben geprägt sein. Das freie Leben wird jeden Ort, jedes Wort und jeden Schritt erfüllen. Die Beziehung von Frau und Mann auf Basis der freien Partnerschaft wird das Fundament des gesamten gesellschaftlichen Lebens und des freien und demokratischen Lebens auf der gesamten Welt sein.