Reststrafe von Aysel Tuğluk für ein Jahr außer Vollzug gesetzt

Die Restfreiheitsstrafe gegen die unter „Terror“-Vorwürfen in der Türkei verurteilte kurdische Politikerin Aysel Tuğluk ist wegen Haftunfähigkeit für ein Jahr außer Vollzug gesetzt worden. Entlassen wurde die 57-Jährige bereits im Oktober.

Die Restfreiheitsstrafe gegen die unter „Terror“-Vorwürfen in der Türkei verurteilte kurdische Politikerin Aysel Tuğluk ist wegen Haftunfähigkeit für ein Jahr außer Vollzug gesetzt worden. Das teilte die Oberstaatsanwaltschaft Kocaeli am Donnerstag mit. Ein von einem Fachausschuss des gerichtsmedizinischen Institut in der Stadt im Nordwesten des Landes eingeholtes Gutachten habe ergeben, dass die 57-Jährige nicht in der Lage sei, sich im Gefängnis selbst zu versorgen. In einem Jahr soll die Vollzugstauglichkeit Tuğluks erneut geprüft werden, so die Behörde.

Aysel Tuğluk befindet sich bereits seit Oktober vergangenen Jahres vorläufig auf freiem Fuß. Die frühere Parlamentsabgeordnete und stellvertretende HDP-Vorsitzende, die im Gefängnis an Demenz erkrankt ist, war entlassen worden, nachdem sie auf Grundlage eines Gutachtens des Instituts für Rechtsmedizin (ATK) für „strafvollzugsuntauglich” erklärt wurde. Dass sie unter einer chronischen und fortschreitenden Alzheimer-Demenz leidet, hatten Fachleute der forensischen Abteilung der Universität Kocaeli schon im Frühjahr 2021 festgestellt. Sie sei nicht länger haftfähig und müsse sofort aus dem Gefängnis entlassen werden, urteilte das Sachverständigengremium damals.

Das Istanbuler Institut für Rechtsmedizin (ATK), eine Einrichtung des Justizministeriums, hatte mehrmals eine gegenteilige Feststellung getroffen und sah lange keinen Grund für eine Aussetzung des Strafvollzugs im Fall Tuğluk. Die HDP kritisierte den Umgang der türkischen Behörden mit der Kurdin als „konkretes Beispiel für die Anwendung von politischem Feindstrafrecht”. Seit ihrer Entlassung wird Tuğluk in Istanbul von Familienangehörigen betreut. Ihre Alzheimer-Demenz wird außer mit Medikamenten unter anderem mit Gedächtnisübungen, psychosozialer Aktivierung und Bewegungsprogrammen behandelt.

Langjährige Menschenrechtlerin und Feministin

Aysel Tuğluk ist Gründerin beziehungsweise Mitbegründerin mehrerer NGOs wie der Forschungsstiftung für Sozialrecht (Toplumsal Hukuk Araştırmaları Vakfı), dem Menschenrechtsverein IHD (İnsan Hakları Derneği) und dem Verein der patriotischen Frauen (Yurtsever Kadınlar Derneği). Vor ihrer politischen Laufbahn arbeitete sie als Rechtsanwältin und verteidigte unter anderem den kurdischen Vordenker Abdullah Öcalan. Sie gehört zu den Gründungsmitgliedern der pro-kurdischen „Partei der demokratischen Gesellschaft“ (Demokratik Toplum Partisi, DTP), deren Vorsitzende sie eine Zeitlang war. Die DTP wurde 2009 durch Entscheid des Verfassungsgerichts verboten.

2016 unter „Terrorvorwürfen“ inhaftiert

Verhaftet wurde Aysel Tuğluk Ende 2016. In mehreren Verfahren wurde sie bereits verurteilt, andere Prozesse sind noch anhängig. Im Februar 2020 bestätigte der türkische Berufungsgerichtshof die bislang höchste Freiheitsstrafe gegen Tuğluk über zehn Jahre Haft. Verurteilt wurde sie aufgrund ihrer Funktion als Ko-Vorsitzende des Graswurzelbündnisses „Demokratischer Gesellschaftskongress” (KCD) wegen „Leitung einer Terrororganisation“. Im Oktober 2021 folgte ein Urteil über zwanzig Monate Freiheitsstrafe wegen vermeintlicher Terrorpropaganda in den Jahren 2012 und 2013. Im sogenannten Kobanê-Prozess in Ankara droht ihr eine erschwerte lebenslange Haftstrafe.

Angriff auf Beerdigung der Mutter wohl ausschlaggebend für Demenz

Im September 2017 löste ein Angriff eines rassistischen Mobs auf die Beerdigung von Hatun Tuğluk, der Mutter Aysel Tuğluks, weltweit Empörung aus. Hunderte Nationalisten hatten in Ankara die Beerdigung mit Steinen attackiert und Hassparolen gegen die Minderheiten der Armenier:innen und Alevit:innen gerufen. Der Leichnam musste daraufhin exhumiert werden, weil der Mob angedroht hatte, die Leiche zu schänden. Wenige Tage später wurde Tuğluk in Dersim beigesetzt. Ihre Tochter durfte sich nicht verabschieden. Die Gefängnisleitung hatte ihr keine zweite Sondererlaubnis erteilt. Ärzt:innen vermutet, dass dieses Ereignis ausschlaggebend für die Demenz von Aysel Tuğluk war.