Gezi-Prozess: Gericht spricht neun Angeklagte frei

Ein türkisches Gericht in Istanbul hat neun Angeklagte im Gezi-Prozess freigesprochen und den Haftbefehl gegen Osman Kavala aufgehoben. Inzwischen hat die Staatsanwaltschaft wegen eines anderen Verfahrens die erneute Festnahme angeordnet.

Im Gezi-Prozess hat ein türkisches Gericht den Bürgerrechtler und Kulturmäzen Osman Kavala sowie acht Mitangeklagte von allen Vorwürfen freigesprochen. Die Richter am 30. Istanbuler Strafgerichtshof im Gefängniskomplex Silivri ordneten auch Kavalas Freilassung aus der Haft an. Ihnen zufolge liegen keine „ausreichenden Beweise“ für die Schuld der Anklagten vor. Das Verfahren gegen sieben weitere Angeklagte ist abgetrennt worden.

Nur wenige Stunden nach der Gerichtsentscheidung hat die Istanbuler Generalsstaatsanwaltschaft die Festnahme Kavalas wegen eines Ermittlungsverfahrens im Zusammenhang mit dem Putschversuch vom 15. Juli 2016 angeordnet. Eigentlich war für den heutigen Abend seine Freilassung aus dem Gefängnis Silivri erwartet worden.

Osman Kavala ist im Oktober 2017 festgenommen worden. Die Vorwürfe gegen ihn waren lange nicht bekannt, da das Verfahren zunächst als Verschlusssache galt. Erst nach mehr als einem Jahr legte die Staatsanwaltschaft eine 657 Seiten umfassende Anklageschrift vor. Dem 62-jährigen Gründer der Kulturstiftung Anadolu Kültür und den anderen Angeklagten wurde unter anderem ein Umsturzversuch im Zusammenhang mit den regierungskritischen Gezi-Protesten von 2013 vorgeworfen. Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) hatte bereits im Dezember 2019 Kavalas Freilassung gefordert. Die Türkei setzte das Urteil bislang aber nicht um. Zuletzt hatten die Richter am Hochsicherheitsgefängnis Silivri dies damit begründet, dass dringender Tatverdacht und Fluchtgefahr bestünden.

In seinem Abschlussplädoyer hatte der Oberstaatsanwalt von Istanbul lebenslange Haftstrafen unter erschwerten Bedingungen für Kavala, die Architektin Mücella Yapıcı und den Aktivisten Yiğit Aksakoğlu gefordert. Für die Angeklagten Çiğdem Mater Utku, Ali Hakan Altınay, Mine Özerden, Şerafettin Can Atalay, Tayfun Kahraman und Yiğit Ali Ekmekçi wurden Gefängnisstrafen zwischen 15 und 20 Jahren gefordert. Das Verfahren der restlichen sieben Angeklagten, die sich im Ausland aufhalten, darunter die Schauspieler*innen Ayşe Pınar Alabora und Memet Ali Alabora, sollte abgetrennt werden.

Kavala: „Ein spekulatives Fantasiegebilde“

Bereits zum Prozessauftakt am 24. Juni hatte der Unternehmer erklärt, die Anschuldigungen entbehrten jeglicher Grundlage und Logik. Die Anklageschrift basiere auf unbewiesenen Mutmaßungen. „Mit verdrehten Tatsachen ist ein spekulatives Fantasiegebilde entworfen worden“, erklärte Kavala vor Gericht.

Gezi-Proteste

Die Gezi-Proteste begannen im Mai 2013 gegen ein geplantes Bauprojekt auf dem Gelände des Gezi-Parks, der unmittelbar an den Taksim-Platz angrenzt. Die lokalen Proteste weiteten sich schnell zu einer landesweiten Widerstandsbewegung gegen die autoritäre Politik des damaligen Ministerpräsidenten und heutigen Staatspräsidenten Recep Tayyip Erdoğan aus, nachdem die Polizei hart gegen die Bürgerinitiative und solidarische Umweltaktivist*innen vorgegangen war. Schließlich wurde die Bewegung blutig niedergeschlagen – elf Menschen starben, Tausende weitere wurden verletzt.

Wer ist Osman Kavala?

Osman Kavala ist Gründer der Kulturstiftung Anadolu Kültür, mit der insbesondere Projekte von ethnischen und religiösen Minderheiten gefördert werden, oftmals mit internationaler Ausrichtung. Zu seinen Anliegen gehören unter anderem die Aussöhnung zwischen der türkischen und der armenischen Bevölkerung und eine friedliche Lösung der kurdischen Frage. Die Stiftung arbeitet auch mit mehreren deutschen Institutionen wie dem Goethe-Institut in Istanbul zusammen. Zudem ist Kavala als Sponsor von Amnesty International bekannt.

Kurz nach der Festnahme Kavalas nannte ihn Staatspräsident Erdoğan abfällig den „türkischen Soros“ in Anspielung auf den US-amerikanischen Kulturstifter George Soros. In einer Rede warf er Kavala einen Versuch der „Spaltung der Nation“ vor. Hinter ihm stehe „der berühmte ungarische Jude Soros. Dies ist der Mann, der Leute um die Welt schickt, um Nationen zu spalten“, sagte Erdoğan. Soros beendete daraufhin die Arbeit seiner Stiftung in der Türkei.