Im April 1915 begann die osmanische Regierung mit der systematischen Ausrottung der armenischen Zivilbevölkerung. Die Verfolgungen wurden mit unterschiedlicher Intensität bis 1923 fortgesetzt, als das Osmanische Reich aufhörte zu existieren und durch die Republik Türkei ersetzt wurde.
Die armenische Bevölkerung des osmanischen Staates wurde 1915 auf etwa zwei Millionen geschätzt. Schätzungsweise eine Million war bis 1918 tot, während Hunderttausende zu heimat- und staatenlosen Flüchtlingen wurden. Bis 1923 war praktisch die gesamte armenische Bevölkerung der anatolischen Türkei verschwunden.
Ein Sultan mit absoluter Macht
Das Osmanische Reich wurde von den Türken regiert, die Länder in Westasien, Nordafrika und Südosteuropa erobert hatten. Sie praktizierten den Islam und waren ein kriegerisches Volk. Die osmanische Regierung hatte ihren Sitz in Istanbul (Konstantinopel) und wurde von einem Sultan geleitet, der mit absoluter Macht ausgestattet war.
Staatliche Diskriminierung
Die Armenier:innen, eine christliche Minderheit, lebten als Bürger:innen zweiter Klasse und unterlagen gesetzlichen Beschränkungen, die ihnen die üblichen Schutzmaßnahmen verwehrten. Weder ihr Leben noch ihr Eigentum waren sicher. Da sie nicht muslimisch waren, mussten sie außerdem diskriminierende Steuern zahlen und durften nicht an der Regierung teilnehmen. Der Status der Armenier:innen, die über das ganze Reich verstreut lebten, wurde zusätzlich dadurch erschwert, dass das Gebiet des historischen Armeniens zwischen den Osmanen und den Russen aufgeteilt war.
Der Erste Weltkrieg
Als im August 1914 der Erste Weltkrieg ausbrach, trat das Osmanische Reich in den Dreibund mit den anderen Mittelmächten Deutschland und Österreich-Ungarn ein und erklärte Russland und seinen westlichen Verbündeten Großbritannien und Frankreich den Krieg.
Die osmanischen Armeen erlitten zunächst eine Reihe von Niederlagen, die sie 1918 durch eine Reihe leichter militärischer Siege im Kaukasus wieder wettmachten, bevor die Mittelmächte später im selben Jahr kapitulierten.
Ob auf dem Rückzug oder auf dem Vormarsch, die osmanische Armee nutzte die Gelegenheit des Krieges für eine kollaterale Massaker-Kampagne gegen die armenische Zivilbevölkerung in den Regionen, in denen der Krieg geführt wurde. Diese Maßnahmen waren Teil des vom Komitee für Einheit und Fortschritt heimlich beschlossenen und unter dem Deckmantel des Krieges durchgeführten Völkermordprogramms. Das Osmanische Komitee für Einheit und Fortschritt eine politische Organisation und Partei, die im Osmanischen Reich zwischen 1889 und 1926 aktiv war.
Ideologie des Turanismus
Diese Massaker fielen mit dem größeren Programm des Komitees zusammen, die Armenier:innen aus der Türkei und den Nachbarländern auszurotten, um ein neues panturanisches Reich zu schaffen. Der (Pan-)Turanismus ist eine pseudohistorische Ideologie, die einen gemeinsamen Ursprung der Turkvölker, Finno-Ugrier, Mongolen und mandschu-tungusischen Völker annimmt. Die eigentliche Urheimat dieser „Turanier“ oder „turaniden Rasse“ sei Turan, eine mythische Landschaft in Zentralasien. Gleichzeitig bezeichnet Turanismus das Bestreben, diese Völker zu einer geistigen und kulturellen Einheit zusammenzufassen.
Deportationen
Im Frühjahr und Sommer 1915 wurde die armenische Bevölkerung in allen Regionen außerhalb der Kriegsgebiete aus ihren Häusern deportiert. Konvois mit Zehntausenden von Männern, Frauen und Kindern wurden Hunderte von Kilometern in die syrische Wüste getrieben.
Die Deportationen wurden als „Umsiedlungsprogramm“ getarnt. Die brutale Behandlung der Deportierten, von denen die meisten zu Fuß zu ihrem Zielort gebracht wurden, machte deutlich, dass die Deportationen hauptsächlich als Todesmärsche gedacht waren. Darüber hinaus wurden die Armenier:innen durch die Deportationspolitik chirurgisch vom Rest der Gesellschaft getrennt und große Menschenmassen ohne oder mit geringem materiellem Schaden aus den Gebieten entfernt.
Der Vertreibungsprozess diente daher auch als eine von dem Osmanischen Komitee inszenierte Gelegenheit zur Ausplünderung des materiellen Reichtums der Armenier:innen und erwies sich als eine mühelose Methode zur Enteignung ihres gesamten unbeweglichen Eigentums.
Todesmärsche
Die Regierung hatte keine Vorkehrungen für die Ernährung der deportierten Bevölkerung getroffen. Der Hungertod forderte einen enormen Tribut, ebenso wie die Erschöpfung der Alten, Schwachen und Kranken. Man verweigerte den Deportierten Nahrung und Wasser, um den Tod zu beschleunigen. Die Überlebenden, die Nordsyrien erreichten, wurden in einer Reihe von Konzentrationslagern gesammelt, von wo aus sie weiter nach Süden geschickt wurden, um unter der sengenden Sonne der Wüste zu sterben.
Durch methodisch organisierte Deportationen, systematische Massaker, vorsätzliches Aushungern und Austrocknen sowie ständige Brutalisierung reduzierte die osmanische Regierung die armenische Bevölkerung auf eine verängstigte Masse von ausgehungerten Individuen, deren Familien und Gemeinschaften mit einem Schlag zerstört wurden.
Vollständige Ausrottung
Die meisten derjenigen, die in Kriegsverbrechen verwickelt waren, entzogen sich der Justiz und viele schlossen sich der neuen nationalistischen türkischen Bewegung unter der Führung von Mustafa Kemal an. In einer Reihe von Militäraktionen gegen Russisch-Armenien im Jahr 1920, gegen die 1921 nach Kilikien in der Südtürkei zurückgekehrten Flüchtlings-Armenier:innen und gegen die griechische Armee, die 1922 Izmir besetzt hatte, wo die letzte noch intakte armenische Gemeinde in Anatolien existierte, vollendeten die nationalistischen Kräfte den Prozess der Ausrottung der Armenier:innen durch weitere Vertreibungen und Massaker.
Als die Türkei 1923 zur Republik erklärt und international anerkannt wurde, gerieten die armenische Frage und alle damit zusammenhängenden Fragen der Umsiedlung und Entschädigung in den Hintergrund und wurden bald vergessen.
Verleugnung des Völkermords durch die Republik Türkei
Insgesamt schätzt man, dass bis zu anderthalb Millionen Armenier:innen durch osmanische und türkische militärische und paramilitärische Kräfte und durch Gräueltaten ums Leben kamen, die absichtlich verübt wurden, um die armenische Bevölkerungspräsenz in der Türkei zu beseitigen.
Die überlebenden Flüchtlinge verteilten sich über die ganze Welt und siedelten sich schließlich in etwa zwei Dutzend Ländern auf allen Kontinenten der Erde an. Triumphierend über die totale Vernichtung der Armenier:innen und befreit von jeglichen Verpflichtungen gegenüber den Opfern und Überlebenden, verfolgte die türkische Republik eine Politik, die den Vorwurf des Völkermords zurückwies und leugnete, dass die Deportationen und Gräueltaten Teil eines vorsätzlichen Plans zur Ausrottung der Armenier:innen gewesen seien.
(Zusammengestellt mit Informationen des Armenian National Institute)