Der heutige Samstag steht weltweit vielerorts im Zeichen des Gedenkens an Jina Mahsa Amini. Die Nachricht vom Tod der 22-jährigen Kurdin am 16. September 2022 war ein Fanal. Jina Mahsa Amini wurde in Gewahrsam der Sittenpolizei des iranischen Regimes getötet, weil sie ihre Kleidung nicht vorschriftsgemäß getragen haben soll. Ihre Ermordung löste die bisher größten Proteste seit der Machtübernahme der islamistischen Mullahs 1979 aus – die „Jin, Jiyan, Azadî“-Revolution. Anlässlich des ersten Jahrestages des gewaltsamen Todes von Amini gingen weltweit unzählige Menschen auf die Straße, auch in der Autonomieregion Nord- und Ostsyrien (AANES).
Gemeinsam gedenken, aber auch gemeinsam trauern und so die Kraft finden, „mit dem Willen der freien Frau“ gegen jegliche Form patriarchaler Gewalt aufzustehen, war die Idee hinter den Demonstrationen, die von Kongra Star, dem Dachverband der Frauenbewegung in der AANES, in Koordination mit Initiativen wie dem Demokratischen Islam-Kongress und der Frauenorganisation Zenûbiya in zahlreichen Städten veranstaltet wurden. In Hesekê etwa beteiligten sich hunderte Frauen an einem Gedenkmarsch für Jina Mahsa Amini. Die Aktivistin Helebce Hisên beschrieb den Volksaufstand als „Jina-Revolution“, die Ausdruck eines von Frauen angeführten Kampfes gegen patriarchale Herrschaftsstrukturen und eine Mentalität sei, die sich gegen das Streben von Frauen nach Freiheit richte.
Demonstration in Kobanê
In Til Temir fand eine gemeinsame Kundgebung von Kongra Star und dem Frauenrat der Zweigstelle der Islam-Konferenz statt. Nura Ebdulqadir erklärte: „Der Aufstand nach Jina Aminis Tod findet unter dem Leitspruch ‚Frau, Leben, Freiheit‘ statt. Viele Frauen haben ihr Kopftuch in der Öffentlichkeit abgelegt, es verbrannt und auch ihre Haare abgeschnitten. Ihre Revolte richtet sich aber nicht gegen das Kopftuch selbst, sondern gegen die vom Regime erzwungene Pflicht, es tragen zu müssen. Das Regime benutzt Religion und ihre Symbole als Instrument für die Kontrolle und Unterdrückung der Bevölkerung. Die Frauen in Rojhilat und Iran gehen als Ausdruck von Widerstand und Selbstbestimmung ohne Kopftuch auf die Straße. Dass sie sich in der Öffentlichkeit verhüllen müssen, ist Ausdruck der patriarchalen Nichtakzeptanz von Frauen. Dagegen kämpfen sie und wir mit ihnen.“
Qamişlo | Fotos: ANHA
Weitere Demonstrationen fanden unter anderem in Şedadê, Qamişlo, Til Birak, Tabqa, Raqqa, Minbic und Şêxmeqsûd statt, dem selbstverwalteten kurdischen Viertel in Aleppo. „Wir sind alle Jina Amini“ und „Nein zu Femizid“ skandierten einige tausend Menschen bei einem Gedenkmarsch durch Kobanê, der vom Şehîd-Egîd-Platz startend bis zum Platz der freien Frau führte. Jiyan Derweş, Vorsitzende des Frauenrats der Autonomieverwaltung der Euphrat-Region, würdigte in einer Rede alle Frauen in Ostkurdistan und Iran, die in Streiks, auf Demonstrationen und anderen Protestaktionen unbeugsam Freiheit, Gerechtigkeit und das Ende der islamistischen Diktatur einforderten.
Kundgebung der Demokratischen Islam-Konferenz in Tabqa
„Das Mullah-Regime verteidigt seine Macht durch patriarchale Unterdrückung, Willkür und brutale Gewalt. Es ist die Politik der Nationalstaaten, die in verschiedenen Formen umgesetzt wird, um Freiheitsansprüche und Widerstände zu beseitigen. Nicht nur der iranische Staat agiert auf diese Weise; auch der türkische Staat bewahrt seine Existenz durch menschenverachtende Methoden. Patriarchale Staaten wie Iran oder die Türkei nähren sich und ihre Ideologie durch Massaker an Frauen und versuchen, den Kampf und den organisierten Willen der Frauen durch Gewalt und Mord zu brechen.“
Eine junge Demonstrantin in Şêxmeqsûd | Foto: ANHA
Den Grund für die Schwere der Übergriffe auf Frauen und der gegen sie verübten Gewalt liegt laut Derweş in der unersetzbaren Wahrheit der Frauen. „Regimen wie denen Irans ist klar, dass der Weg zur Befreiung aller Unterdrückten über die Freiheit der Frauen führt. Sie wissen, dass ein starker und organisierter Wille von Frauen und ihr gemeinsamer Kampf sich den Zielen des Männerstaates, der Frauen keine andere Überlebenschance als die der Sklaverei und der Willenslosigkeit zugesteht, entgegenstellen. Deshalb greifen sie uns Frauen an, deshalb töten sie uns. Sie fürchten sich vor uns und unserem Befreiungskampf. Wir rufen alle Frauen weltweit auf, die Verteidigerinnen der Jin, Jiyan, Azadî-Revolution in ihrem Widerstand zu unterstützen.“
Femizid als Auslöser einer Frauenrevolution
Jina Mahsa Amini war am 16. September 2022 nach ihrer Festnahme durch die Sittenpolizei in Irans Hauptstadt Teheran gestorben. Sie war festgenommen worden, weil sie gegen die Kleidungsvorschriften des Regimes verstoßen haben soll. Nach Angaben ihrer Familie starb sie an Hirnblutungen und einem Schädelbruch infolge von Misshandlungen auf einer Wache der sogenannten Moralpolizei. An ihrem Tod entzündete sich die „Jin, Jiyan, Azadî“-Revolution, die von Ostkurdistan ausgehend und unter der Führung von Frauen alle Teile Irans erfasste. Nach Angaben von Nichtregierungsorganisationen wurden dabei mehr als 500 Demonstrierende von iranischen Regimekräften getötet, tausende verletzt und zehntausende festgenommen. Sieben Männer wurden im Zusammenhang mit den Protesten hingerichtet.