Salih Muslim, Ko-Vorsitzender der Partei der Demokratischen Einheit (PYD), hat sich im ANF-Interview über die Auswirkungen der am 14. Mai in der Türkei stattfindenden Parlaments- und Präsidentschaftswahlen auf die Autonomieregion Nord- und Ostsyrien und die Möglichkeit eines Angriffs auf Rojava geäußert.
Am 14. Mai werden in der Türkei Wahlen abgehalten. Was können Sie zu diesen Wahlen und ihren möglichen Folgen sagen?
Die Wahlen am 14. Mai in der Türkei sind sehr wichtig. Das herrschende Regime hat die Türkei in allen Bereichen wie Wirtschaft, Politik, Diplomatie usw. in den Bankrott getrieben. Das wurde vor allem mit der kriegerischen Aggression in Kurdistan und der Türkei nach 2015 intensiviert. Wir haben diese Tatsache wiederholt in diplomatischen Gesprächen zum Ausdruck gebracht. Das faschistische Regime plant die Vernichtung der Kurden und greift sowohl Rojava als auch Başûrê Kurdistanê (West- und Südkurdistan) an. Es fordert alle auf, ihm in seinem Krieg gegen die Kurden zu helfen.
Heute besteht die Möglichkeit, diese faschistische Regierung auf demokratische Weise abzusetzen. Diese Chance bietet sich am 14. Mai den Menschen in der Türkei. Nicht nur das kurdische Volk, sondern alle in der Türkei lebenden Völker haben die Möglichkeit, diese Regierung loszuwerden. Allerdings besteht die Frage, ob ein Diktator wie Erdoğan eine demokratische Wahl zulassen und seine Position aufgeben wird. 2015 hat er die Wahlen annulliert und die Türkei in eine Hölle verwandelt. Es besteht die Möglichkeit, dass er es wieder tut. Es scheint schwierig für ihn zu sein, seine Macht als Ergebnis einer demokratischen Wahl aufzugeben. Er wird tun, was er kann. Es besteht sogar die Möglichkeit eines Bürgerkriegs. Die Gefahr ist offensichtlich. Es ist ein heikler Prozess. Wir wissen nicht, wie die Wahlen ablaufen werden, aber sie werden das Schicksal der Türkei in jeder Hinsicht verändern. Entweder werden die Probleme in der Türkei demokratisch gelöst, oder es wird weiter Faschismus und ein Sultan-System herrschen. Das betrifft nicht nur die Kurden und die Völker der Türkei, alle Menschen auf der Welt sollten aufmerksam sein. Es ist unvorhersehbar, was diese faschistische Regierung tun wird. Sie kann überall Chaos stiften und viele Dinge stören. Ob zum Guten oder zum Bösen, die Wahlen in der Türkei werden den Weg für einen historischen Wandel ebnen.
Sie sagen, dass die Regierung alles tun wird, um die Wahlen zu gewinnen. Gehört dazu auch die Möglichkeit eines Angriffs auf Rojava?
Die Angriffe gegen Rojava und Başûr finden unter dem Vorwand angeblicher „Sicherheitsbedenken" statt, aber es geht um die Kurdinnen und Kurden. Sie basieren auf der Tatsache, dass die Regierung die bestehenden Probleme nicht lösen will. Die Wahlen sind auch für Rojava sehr wichtig. Wenn diese faschistische Regierung die Wahlen gewinnt, wird sie ihre Invasionspläne gegen Rojava vollenden. Ihr Ziel ist es, ganz Syrien zu besetzen. Die Wahlen haben daher eine direkte Auswirkung auf Rojava und die syrische Frage. Die jetzige Regierung hat bis heute nicht zugelassen, dass die Probleme in Syrien gelöst werden. Sie will eine 32 Kilometer tief ins Inland reichende Besatzungszone entlang der Grenze von Nord- und Ostsyrien errichten. Eine entsprechende Landkarte wurde ja bereits bei den Vereinten Nationen (UN) vorgelegt. Wenn diese Regierung an der Macht bleibt, wird sie diesen Plan umsetzen. Deshalb haben die Wahlen direkte Auswirkungen auf uns.
Vor dem schweren Erdbeben mit Epizentrum in Kurdistan am 6. Februar, von dem die Türkei und Syrien betroffen waren, hieß es, der türkische Staat werde Rojava angreifen. Bestehen diese Drohungen noch immer?
Vor dem Erdbeben hieß es, dass der türkische Staat die Region in kurzer Zeit angreifen könnte. Es gibt immer noch Vorhersagen, dass es zu einer Invasion kommt. Die Türkei wird an dem Tag angreifen, an dem sie die Gelegenheit dazu findet. Das hat nichts mit Politik zu tun, es wird über den türkischen Innenminister Soylu und den MIT-Chef Hakan Fidan durchgeführt. Der Anschlag am Taksim in Istanbul war das sichtbarste Beispiel dafür. Solange diese Regierung und ihre Minister existieren, können sie jeden Moment einen Krieg beginnen. Wir setzen unsere Vorbereitungen für den Widerstand fort, ohne die Möglichkeit in Betracht zu ziehen, dass sich die Situation abgemildert haben könnte.
Bei dem Erdbeben haben nach offiziellen Angaben über 50.000 Menschen ihr Leben verloren, einigen Quellen gehen von 100.000 Todesopfern aus. Trotzdem hat der türkische Staat seine Angriffe nicht eingestellt. Entlang der Grenzlinie finden täglich Drohnenflüge statt, es werden unentwegt Angriffe durchgeführt. Lassen wir uns also nicht täuschen und in Selbstgefälligkeit verfallen. Diese Regierung kennt weder Moral noch Recht noch Maß. Außerdem setzt sie chemische Waffen ein, die in der ganzen Welt geächtet sind.
Wie wird sich eine Niederlage der AKP/MHP-Regierung bei den Wahlen auf die Demokratische Partei Kurdistans (PDK) auswirken, die mit dieser Regierung zusammenarbeitet?
Die Regierung von Başûrê Kurdistanê und insbesondere die PDK hat alles, was mit Öl und Wirtschaft zu tun hat, in ihre Hände genommen. Sie haben mit Erdoğan und seiner Familie Verträge über Öl und große Unternehmen geschlossen. Diese kommen nun ans Tageslicht. Ein französisches Gericht hat das Ölgeschäft mit dem Sohn von Erdoğan gestoppt. Nach dem irakischen Regierungssystem kann man kein Öl an einen Außenstehenden verkaufen. Das internationale Schiedsgericht in Paris hat die Türkei in dieser Angelegenheit verurteilt. Es gibt noch andere Dinge, die noch nicht bekannt sind, sie könnten morgen und übermorgen ans Licht kommen, geheime Absprachen mit Erdoğan und seiner Familie...
Der Sturz von Erdoğan und der AKP-Regierung würde sich sowohl auf die Türkei als auch auf Başûr auswirken und das Gleichgewicht im Nahen Osten verändern. Der Abgang des Faschismus würde auf Başûr große Auswirkungen haben.