Massiver Anstieg von Dschihadisten-Familien in den Camps

Die Ko-Vorsitzende des Rates für humanitäre Aufgaben der Selbstverwaltung von Nord- und Ostsyrien, Zozan Alluş, erklärt, dass für Familien der IS-Dschihadisten eine internationale Lösung gefunden werden muss.

Die Ko-Vorsitzende des Rates für humanitäre Aufgaben der Selbstverwaltung von Nord- und Ostsyrien, Zozan Alluş, sagt, die Entwicklung einer Lösung für die Frauen und Kinder der IS-Dschihadisten sei ein Teil des Kampfes gegen den IS. An die internationalen Mächte gewandt sagte sie, wenn keine Maßnahmen ergriffen werden, sich durch diese Kinder der IS neu formieren könne.

Alluş berichtet vom massiven Anstieg der Anzahl der Familien von IS-Dschihadisten in der Region: „In der aktuellen Lage fehlen uns die Ressourcen, sie zu schützen, zu versorgen, zu erziehen und zu rehabilitieren. Deshalb müssen alle Staaten ihre Aufgabe in dieser Hinsicht erfüllen“, erklärt Alluş.

Die Familien von IS-Dschihadisten sind in speziellen Bereichen in den Gebieten der demokratisch-autonomen Selbstverwaltung in den Flüchtlingscamps Ain Issa, Roj und Hol untergebracht. Mit der Offensive auf al-Bagouz ist die Anzahl der Camp-Bewohner*innen in Hol auf 65.114 gestiegen, davon sind 6.000 Angehörige von IS-Dschihadisten und ihre Familien. Im Camp von Ain Issa befinden sich ebenfalls 3.000 Frauen und Kinder von IS-Dschihadisten, im Roj-Camp sind es etwa 2.000.

Wir haben mit Zozan Alluş über die aktuelle Lage im Hinblick auf die Angehörigen von IS-Dschihadisten gesprochen.

Seit wann kommen die Familien von IS-Dschihadisten auf das Gebiet der demokratisch-autonomen Selbstverwaltung oder werden festgenommen und in den Camps untergebracht?

Die Ankunft der Familien von IS-Dschihadisten begann mit der Offensive von Minbic. Damals kamen ab und zu welche. Aber mit der Offensive auf Raqqa stieg die Zahl massiv, und wir begannen sie in unseren Camps unterzubringen. Die während der Offensive auf al-Bagouz evakuierten Dschihadisten-Familien werden im Hol-Camp untergebracht.

Wie arbeiten Sie mit den Frauen und den Kindern der IS-Dschihadisten und wie unterscheiden sie bei den Frauen zwischen denen die an Verbrechen beteiligt waren und anderen?

Als demokratisch-autonome Selbstverwaltung ist unsere Perspektive für die Frauen eine etwas andere. Es gibt auch Unterschiede zwischen den IS-Familien. Manche sind in die vom IS beherrschten Gebiete in Syrien als Ehefrauen, manche als Kinder und andere, weil sie daran glaubten, gekommen. Manche haben Menschen gemordet, haben an Massakern mitgewirkt. Natürlich muss man die Frauen voneinander unterscheiden.

Aber dennoch, wir betrachten sie alle vor allem als Menschen. Wir sprechen mit allen und bringen sie unter. Natürlich finden Ermittlungen statt. Manche sagen uns selbst, dass sie beim IS Verbrechen begangen haben und erzählen uns von ihrer Aufgabe. Von manchen, die Verbrechen begangen haben, wissen wir das bereits bevor sie bei uns ankommen. Aber dennoch ist es unsere Aufgabe, diese Familien nach ihrer Ankunft in den aktuellen Camps unterzubringen.

Wie sinnvoll ist es, sie in normalen Flüchtlingslagern unterzubringen?

Wir haben leider nicht die Ressourcen für andere Alternativen. Sie befinden sich in gesonderten Bereichen in den Camps. Am Anfang bei der Raqqa-Operation hatten wir sie unter den anderen Flüchtlingen untergebracht. Aber wir haben beobachtet, dass daraus viele Probleme entstanden. Wir haben die Familien der Dschihadisten deshalb anders untergebracht und Sonderbereiche in Ain Issa, Hol und Roj eingerichtet.

Wie ist das Leben im Moment in den Camps?

In den Camps, in denen die Familien untergebracht sind, gibt es einige Probleme. Einige belassen es nicht dabei, nur an die Ideen des IS zu glauben, sie arbeiten auch weiter für ihn. Ich möchte hierzu ein Beispiel geben. In Ain Issa haben wir ein Bildungsprogramm für diese Frauen begonnen. Manche Frauen zeigten daraufhin ihre Gesichter, ihren Kindern erlaubten sie in die Schule zu gehen und die Mitarbeiterinnen des Camps konnten ihre Zelte zu betreten. Dann kam eine Frau namens Daye Ahmet Misri. Die Frauen begannen sofort wieder ihre Gesichter zu verhüllen und die Kinder nicht mehr in die Schule zu lassen. Einige von ihnen beeinflussen auch diejenigen, die sich eigentlich von diesen Ideen vollständig trennen und ein neues Leben beginnen wollen. In manchen Camps üben solche Frauen Gewalt gegenüber anderen Frauen aus. So wurde zum Beispiel eine Frau namens Nura, als wir sie zu ihrer Familie schickten, von diesen Frauen misshandelt.

Gut, aber welche Maßnahmen ergreifen Sie dagegen? Gibt es nicht die Möglichkeit eine solche gewalttätige Frau von den anderen zu trennen und unter Umständen zu inhaftieren?

Natürlich gibt es ein Verfahren in solchen Fällen und je nach schwere der Schuld wird die Person zur Verantwortung gezogen. Aber viele Frauen können aus Angst bei solchen Ereignissen nicht kommen und etwas sagen. Aber später hören wir das dann von anderen. Solche Taten sind auch nicht so verbreitet. Wir können nicht sagen, dass dort auf alle Frauen Druck ausgeübt wird. Es gibt viele Frauen, die sich ändern, sich vom schmutzigen Denken des IS endlich trennen und ein normales Sozialleben begonnen wollen. Manche Frauen in den Camps sind aber noch sehr verbunden mit den Ideen des IS und diese gehen vor allem in der Nacht gewalttätig gegen andere Frauen vor. Das liegt auch daran, dass wir nicht in der Lage sind, die gesamten Camps mit Strom zu versorgen. Wir haben in dieser Hinsicht große Probleme. Bei den Camps, von denen wir hier reden, handelt es sich auch nicht um kleine Orte. Es sind große Lager mit Tausenden von Zelten. Damit es in der Nacht sicherer ist, brauchen wir Strom. Dafür sind allerdings große Investitionen notwendig und wir haben nicht die Mittel dafür.

Trotzdem passieren solche Ereignisse nur ab und an. Wenn wir so etwas bemerken oder hören, dann holen wir die betreffende Täterin heraus und bringen sie ins Gefängnis. Aber es kann keine Lösung sein, diese Frauen von Beginn an zu inhaftieren. Wir schicken sie in ein solches normales Camp, um ihnen eine Chance zu geben, damit sie normal leben können. Aber diejenigen, die an den Konzepten des IS festhalten und sich so verhalten, gehen schließlich ins Gefängnis. Aber wir haben auch ernste Probleme für diese Frauen, die andere bedrohen und Verbrechen begangen haben, die die Organisierung des IS neu vorantreiben, eine Lösung zu finden. Immer wieder holen wir diese Frauen und sperren sie in Sonderabteilungen in den Gefängnissen, in denen sich auch die Männer befinden. Aber das sind keine Orte, die auf die besonderen Bedürfnisse von Frauen zugeschnitten sind.

Aber unter diesen IS-Frauen gibt es auch diejenigen, die bereuen, die wirklich nichts getan haben und für ihre Kinder ein normales Leben wollen. Natürlich will die Mehrheit nur noch, dass ihre Kinder ein normales Leben führen und auch so aufwachsen, und sie wollen in ihre Länder zurückkehren. Aber es gibt eben auch diejenigen, die wirklich gefährlich sind. Es reichen zwei oder drei von ihnen aus, um ein ganzes Camp zu stören. Sie sehen es als ihr Recht an, Gewalt anzuwenden. Wenn wir so etwas bemerken, dann bringen wir diese Frauen ins Gefängnis. Aber nach einer Weile müssen wir sie wieder in den Camps unterbringen. Aus diesem Grund brauchen wir ein Frauengefängnis, dafür aber brauchen wir Hilfe von den anderen Ländern.

Was machen Sie mit den syrischen Frauen, die sich dem IS angeschlossen oder bei ihm gelebt haben?

Gegen Syrerinnen, die ins Camp kommen, wird erst einmal ein Ermittlungsverfahren eingeleitet. Wenn sie niemanden umgebracht und keine schwere Straftat begangen und nur dort gelebt haben, dann können sie von ihren Familien abgeholt werden. Allerdings dauern die Ermittlungen monatelang. Wenn sich herausgestellt hat, dass sie keine Verbrechen begangen haben und ihre Familien und sie selbst es wollen, dann schicken wir sie zurück zu ihren Familien. Es gab zum Beispiel Nura aus Aleppo, sie bereute und ihre Familie wollte sie auch zurück. Da sie es ebenfalls wollte, schickten wir sie zurück zu ihrer Familie. Sie hatte ihre Verschleierung abgelegt und deswegen Gewalt von IS-Frauen im Camp erfahren. Manche Familien wissen, dass ihre Angehörigen oder ihre Töchter bei uns sind. Sie kommen und beantragen ihre Kinder abzuholen. Wenn die Töchter das wollen, dann schicken wir sie zurück, wenn sie das nicht wollen, dann bleiben sie bei uns im Camp.

Und wie ist das Prozedere mit ausländischen IS-Frauen und Kindern?

Wir arbeiten hier vor allem auf internationaler Ebene. Das Rote Kreuz arbeitet auch dazu. Sie nehmen ihre Namen und Adressen auf. Diejenigen, die es wollen, treten in Kontakt mit ihren Familien. Als demokratisch-autonome Selbstverwaltung nehmen unsere Außenbeziehungskomitees mit jedem der Herkunftsstaaten offizielle Kontakte auf. So werden zum Beispiel die Namen der betreffenden französischen Staatsbürgerinnen an die französische Regierung weitergeleitet. Bisher ist die Zahl der Staaten, die Frauen und Kinder zurückgenommen haben, ziemlich gering. Die USA haben eine Frau mit zwei Kindern aufgenommen. Der Sudan hat fünf oder sechs Frauen mit ihren Kindern übernommen. Sie kamen in unser Außenbeziehungsbüro in Qamişlo und haben sie offiziell übernommen. Russland hat ebenfalls ein paar Familien aufgenommen. Indonesien hat eine bedeutende Anzahl von Frauen und Kindern zurückgenommen. Belgien wollte eine Frau aufnehmen aber erklärt, man werde ihre Kinder nicht aufnehmen. Wir haben erklärt, dass wir Frauen und Kinder nicht trennen, sie müssen entweder alle nehmen oder wir werden eine andere Lösung finden. Das haben wir ihnen auch so gesagt. Frankreich wollte niemanden haben, sie haben gesagt: „Sollen sich eure Gerichte mit ihnen befassen, sie sollen auch bei euch ihre Strafe absitzen.“ Großbritannien hat eine Person ausgebürgert. Wir haben bei den Treffen gesehen, dass sich kein einziger Staat ernsthaft mit dem Thema beschäftigt. Sie sagen immer wieder: „Macht es so, wie ihr es in eurem Land für richtig haltet.“ Aber es reicht nicht aus, sich auf so eine Haltung zu beschränken. Es sieht doch so aus, wenn es deine Staatsbürger*innen sind, dann musst du sie auch nehmen und bei dir vor Gericht stellen. Wie sollen wir denn diese Leute nehmen, verurteilen und bestrafen? Bis jetzt ist unsere Selbstverwaltung nicht anerkannt. Wir diskutieren hier auch die Alternative eines internationalen Gerichtshofs.

Seit zwei Jahren sind Frauen und Kinder aus dem IS bei Ihnen, haben Sie selbst Projekte zur Resozialisierung durchgeführt?

Jetzt, wo die Territorialherrschaft des IS praktisch zu Ende ist, ist für die Frauen eine Rehabilitation und für die Kinder spezielle Schulen notwendig. Wir haben dazu einen Plan und eine Strategie. In Bezug auf diesen Plan treffen wir uns mit der internationalen Koalition. Das ist auch ein Teil des Kampfs gegen den IS. Heute ist der IS in al-Bagouz am Ende, aber wir können nicht einfach sagen, „mit dem IS ist es vorbei“. Ja, der militärische Kampf und der Frontenkrieg gehen zu Ende, aber die Mentalität des IS existiert weiter. Die Frauen und Kinder in unseren Camps sind ein Teil davon. Man muss diesen Prozess strategisch mit einem Plan angehen und sich um eine Resozialisierung bemühen. Für die Projekte braucht es sowohl ökonomische als auch fachliche Unterstützung. Außerdem benötigen nicht nur diese Frauen Bildung, auch die Flüchtlinge, die sonst in unseren Camps leben, müssen Bildung erhalten. Denn auch wenn sie keine IS-Mitglieder waren, so haben sie doch vier bis fünf Jahre unter der Herrschaft des IS gelebt. Das hat natürlich ihre Gedanken und ihren Willen beeinflusst. Diese Bildungsarbeit kann nicht jeder machen. Dafür sind professionelle Teams nötig. Auch hier brauchen wir Spezialist*innen und Mittel, um die Räume für solche Arbeiten bereitstellen zu können.

In unseren Camps gibt es einige Schulen. So gibt es in Ain Issa sechs Schulen. Fünf davon sind für Flüchtlinge und eine ist für die Kinder von IS-Mitgliedern. Im Roj-Camp gibt es eine Schule für Kinder von IS-Mitgliedern. In Hol gibt es immer noch keine. Aber das sind keine Schulen, die eine solche Spezialanforderung abdecken können, es handelt sich um normale Schulen. Nicht jeder kann mit den vom IS indoktrinierten Kindern sinnvoll arbeiten. Da haben wir ein ernstes Problem, denn wir haben nur sehr wenige Spezialist*innen und diejenigen die kommen, wollen nur wenige Stunden unterrichten. Sie haben ebenfalls Angst. Wir haben bereits viele Projekte und Programme, aber die können wir auch nicht allein fortführen. Wir brauchen wirklich Hilfe.

Und was hat die Koalition auf den Treffen Ihnen zu diesem Thema gesagt?

Wir haben uns nicht nur mit der Koalition, sondern auch mit anderen ausländischen Kräften getroffen. Sie haben gesagt: „Das ist richtig und das ist euer Recht. Dafür ist ein großes Projekt nötig. Wir werden das diskutieren.“ Aber bis jetzt gab es keinerlei Unterstützung.

Als demokratisch-autonome Selbstverwaltung haben wir nicht allein die Kraft, um das alles zu tragen. In der aktuellen Lage fehlen uns die Ressourcen, sie zu schützen, zu versorgen, zu erziehen und zu rehabilitieren. Deshalb müssen alle Staaten ihre Aufgabe in dieser Hinsicht erfüllen.

In unseren Camps befindet sich eine große Zahl von IS-Familien. Diese stellen sowohl jetzt als auch für die Zukunft eine Gefahr dar. Wir reden hier nicht nur von den IS-Frauen. Sie haben auch viele Kinder. Diese Kinder werden als „die neue Generation“ bezeichnet. Wenn nicht ausreichend Maßnahmen ergriffen werden und nicht für eine Resozialisierung gesorgt wird, dann wird eines Tages eine neue Terrororganisation durch sie entstehen.

Deshalb sollten die Staaten heute ihre Aufgaben wahrnehmen. Sie sollten nicht sagen, „die sind weit weg in Rojava, das geht uns nichts an“. Heute beeinflusst sich alles auf der Welt gegenseitig. Heute sind sie hier, morgen können sie schon wieder ganz wo anders sein.

Die ganzen europäischen Staaten sprechen von früh bis spät von Menschenrechten. Das fängt aber dabei an, eine Lösung für die Probleme mit dem IS, der sich gegen alle Menschenrechte richtet, zu finden und Verantwortung für die Familien und Kinder zu übernehmen.

Heute ist der Tag der Prüfung. Okay, es sind IS-Mitglieder, okay, es sind Frauen und Kinder von IS-Dschihadisten, aber bei dieser Sicht bleibt eine Tatsache auf der Strecke. Ob wir es wollen oder nicht es ist notwendig, eine Lösung für diese Situation zu finden. Denn in erster Linie sind es doch Menschen, und sie sind hier.