„Ich grüße die Mutter von Ivana Hoffmann“
Die feministische Delegation „Gemeinsam Kämpfen“ besucht ein assyrisches Dorf am Grenzfluss Habur in Nordsyrien. Hier ist die Internationalistin Ivana Hoffmann im Kampf gegen den IS ums Leben gekommen.
Die feministische Delegation „Gemeinsam Kämpfen“ besucht ein assyrisches Dorf am Grenzfluss Habur in Nordsyrien. Hier ist die Internationalistin Ivana Hoffmann im Kampf gegen den IS ums Leben gekommen.
Die Habur-Region wurde 1933 durch assyrische Christ*innen besiedelt, nachdem zuvor im irakischen Semele ein Massaker an ihnen verübt worden war. Nachdem sich die Briten aus dem Irak zurückgezogen hatten, wurden mehr als 9000 Assyrer*innen, vor allem Männer und Jugendliche, massakriert. Deren Vorfahren waren aus dem osmanischen Raum während des Genozids an den Christ*innen zwischen 1915 und 1918 nach Semele geflohen. Nun sind die Assyrer*innen einem erneuten, dem dritten Genozid ausgesetzt. Nur noch vier Personen wohnen in dem Dorf Waltoo, das auf Arabisch Tel Nasri heißt. Eigentlich wäre Waltoo der Ort, an dem sie hätten zur Ruhe kommen müssen.
Abends sitzen wir mit dem 51-jährigen Sargon Silo, seiner Mutter und seinem Bruder in seinem kleinen Häuschen und essen Weihnachtsplätzchen. Neben Sargon Silo und seinem Bruder leben hier noch zwei Cousins aus der assyrischen Gemeinde. Über die Weihnachtsfeiertage ist auch seine 73-jährige Mutter Zekta Benjamin aus Belgien angereist, sowie eine Tante aus Australien.
Türkei öffnet für den IS die Schleusen des Staudammes
Im Februar 2015 hat der IS die assyrischen Dörfer in der Region überfallen und 265 Menschen, die es nicht schafften, in die sicheren kurdischen Regionen zu fliehen, in die Region Şaddadi entführt. Vier Menschen aus Waltoo wurden vor laufenden Kameras vom IS enthauptet. Das Video, auf dem sie in orangefarbenen Kitteln zu sehen sind, wurde ins Netz gestellt. Die übrigen Dorfbewohner*innen wurden erst gegen ein Lösegeld von 50.000 Dollar pro Person freigelassen, berichtet uns Sargon Silo.
Die Menschen hätten nach diesem erneuten Genozid keinen Mut mehr gehabt und seien nach Australien, Israel oder Deutschland geflohen, auch in den anderen Dörfern am Habur sähe es nicht anders aus. „Der IS hat direkt mit der Türkei zusammengearbeitet. Die Türkei öffnete den Staudamm an dem Tag, an dem der IS angriff, als die YPG, YPJ und die örtliche Miliz der Mawtḇā d-Nāṭorē d-Ḥābor (Wächter des Habur) das Dorf befreien wollten. Der Wasserstand war monatelang sehr niedrig, aber an dem Tag hat die Türkei die Schleusen geöffnet, damit unsere Kämpferinnen und Kämpfer den Fluss nicht überqueren können“, erklärt Sargon.
Gemeinsam gegen den IS gekämpft
„Als der IS angegriffen hat, waren wir gerade in Latakia bei einem Fußballspiel unseres Teams. Wir sind sofort zurückgefahren und haben gemeinsam mit den YPG und YPJ gekämpft. Ich sehe diesen Angriff auf uns als ein internationales Komplott, um die assyrischen Menschen aus der Region zu vertreiben. Die Türkei und der IS haben einen Angriffskrieg geführt, Europa und insbesondere Deutschland hat die Türen weit geöffnet, so dass alle Assyrer jetzt geflohen sind“, sagt Sargon.
Unter den Gefallenen war Ivana Hoffmann
„Die YPG und YPJ haben hier gemeinsam mit uns zehn Tage gekämpft, um Waltoo zu befreien. Dann wurden Sicherheitsgräben gezogen. Nach sechs Monaten war die ganze Region befreit. Hier im Dorf sind 20 Freiheitskämpfer*innen gefallen“, erzählt Sargon weiter. Unter ihnen war auch die Internationalistin Ivana Hoffman aus Deutschland. „Der IS war militärisch sehr stark. Die YPG und YPJ wollten sie einkreisen, wurden aber selbst eingekreist, etwa 100 Freund*innen waren in dem Kessel. Dann kam Unterstützung aus Til Temir. Das Dorf wurde befreit, aber es war alles geplündert, sogar die Türen und Fenster, Kühlschränke, alles haben sie mitgenommen, Decken und Kissen, lokale Handarbeiten.“
„Ich werde hier bleiben“
„Ich bin hier geboren und aufgewachsen, und werde hier bleiben“, erklärt Sargon. „Vor den Kämpfen haben hier 1000 Menschen gelebt, ich vermisse meine Verwandten und Freunde. Normalerweise wäre jetzt hier überall Weihnachtsdekoration, die Menschen würden tanzen und lachen.“
Am Morgen führt er uns durch das Dorf, in dem inzwischen 186 geflüchtete Familien aus Efrîn leben. Wir sehen die am Ostersonntag 2015 zerstörte Marienkirche, sowie die alte in den 1930er Jahren erbaute Kirche, um die sich Sargon liebevoll kümmert. Sargon ist der Verwalter des nun leeren Dorfes. Er hat die Schlüssel für alle Häuser. Wir besuchen auch noch die Tante aus Australien. Ihre Küche, in der sie Baklava und Tee serviert, erinnert uns an zu Hause. Sie hat einen Küchentisch mit Wachstuchdecke und Stühle, während bei den Kurd*innen meist am Boden gesessen wird.
„Ich grüße die Mutter von Ivana Hoffmann“
„Die momentane Angriffsdrohung Erdoğans führt natürlich dazu, dass die Menschen jetzt gar nicht mehr zurückkehren wollen“, erklärt uns Sargon. „Wäre der Frieden hier gesichtet, würden sicher viele wiederkommen. Die Menschen aus Efrîn haben dasselbe Leid erfahren wie wir. Daher habe ich nicht gezögert, ihnen unser Dorf zu öffnen. Natürlich kannten wir die kurdische Bewegung vor dem Krieg, wir hatten aber keine direkten Beziehungen zu ihr. Inzwischen habe ich die Bücher von Öcalan gelesen, der Demokratische Konföderalismus passt gut zu unserer Kultur. Ich grüße die Mutter von Ivana Hoffmann, sie kann stolz auf sie sein. Sie hat ein sicheres Leben in Deutschland zurückgelassen, um uns hier bei der Befreiung zur Seite zu stehen.“