„Gestern die armenische Bevölkerung, heute die kurdische“

Rojîn Hedad, deren Familie sich vor dem vor 103 Jahren begonnenen Armeniergenozid nach Aleppo retten konnte, beschreibt am Beispiel Efrîn, wie der türkische Staat heute die gleiche Genozidpolitik gegen die Kurden fortsetzt.

Am Vorabend des ersten Weltkriegs begann unter der Führung des Komitees für Einheit und Fortschritt am 24. April 1915 mit der Inhaftierung und Exilierung von 240 armenischen Intellektuellen und Führungspersönlichkeiten der Armeniergenozid. Die Armenier*innen bezeichnen den Genozid als „Aghet“ (Katastrophe) oder „Medz Yeghern“ (Großes Massaker). Dabei wurden zwischen 700.000 und 1,2 Millionen Armenier*innen ermordet. Diejenigen, die nicht ermordet wurden, wurden nach Dêra Zor, Raqqa, Aleppo und Nordsyrien deportiert, wobei ein großer Teil der Betroffenen ums Leben kam.

Die türkische Politik ist auf einer Basis von Genoziden und Massakern aufgebaut. Sie verfolgt diese Politik seit 103 Jahren. 2015, als sich der Genozid an den Armenier*innen zum hunderten Mal jährte, beendete der türkische Staat den vom kurdischen Repräsentanten Abdullah Öcalan begonnenen Prozess für eine friedliche Lösung und am Jahrestag des Abkommens von Lausanne, am 24. Juli 2015, begann er mit einer neuen Phase von Massakern gegen die kurdische Bevölkerung, die nun seit drei Jahren in Nord-, Süd- und Westkurdistan andauert.

Die Geschichte wiederholt sich“

Rojîn Hedad, deren Familie sich vor dem vor 103 Jahren begonnenen Armeniergenozid nach Aleppo retten konnte, hat im Stadtviertel Şêx Meqsûd mit ANF gesprochen. Sie betonte, dass der türkische Staat, das, was er vor 103 Jahren den Armenier*innen antat, heute versucht den Kurd*innen anzutun. Rojîn Hedad erinnert daran, dass der türkische Staat für die Verschärfung des Kriegs in Syrien, den Tod von Hunderttausenden Menschen verantwortlich ist und mit dem Krieg in Efrîn seine völkermörderische Politik fortsetzt: „Das Massaker und die Deportationen sind nicht auf die Vergangenheit beschränkt, die Geschichte wiederholt sich bis heute immer noch.“

Ein Ausschnitt aus dem Widerstand

Bevor Rojîn Hedad mit uns in der Kirche des armenischen Viertels Cebel Seydo in Şêx Meqsûd in Aleppo spricht, werden wir dem Schwager von Hedad, Ebû Meryem, vorgestellt. Der 50-jährige Ebû Meryem führt uns durch die Kirchen der Stadt und erzählt von den vergangenen sieben Kriegsjahren in Aleppo und dem Widerstand von Şêx Meqsûd.

Als wir vor einer Kirche ankommen, zeigt Ebû Meryem auf ein großes Kreuz an der Tür: „Als die Banden angriffen, fiel dieses Kreuz herunter, aber als die Kämpfer*innen der YPG/YPJ den Angriff zurückschlugen, hängten sie das Kreuz wieder an seinen Platz.“ Direkt gegenüber der Kirche befindet sich das armenisch-assyrisch Außenbeziehungsbüro und Ebû Meryem nimmt mich beim Arm und zeigt auf das am Büro angebrachte Bild von Öcalan. Als wir das Büro betreten, sehen wir als erstes das Bild des im Widerstand von Efrîn gefallenen Kämpfers der Demokratischen Kräfte Syriens (QSD) Baran Heleb.

Eine von Hunderttausenden armenischen Geschichten …“

Wir sprechen mit Rojîn Hedad in der Kirche und sie berichtet von der Flucht ihrer Familie: „Meine Familie ist aufgrund der Völkermordangriffe des Osmanischen Staates von Hatay nach Aleppo geflohen. Unsere Geschichte ist nur eine von Hunderttausenden armenischen Geschichten. Hier in Aleppo wurden wir in alle Himmelsrichtungen verstreut. Wir sind in Cebel Seydo geblieben. Während des Genozids flohen sehr viele armenische Familien aus Antakya, Riha, Mêrdîn und anderen Orten und ließen sich in Nordsyrien und Aleppo nieder.“

Damals waren es die Osmanen, heute ist es Erdoğan“

Sie fährt fort: „Unser Leben bestand immer aus Flucht und Widerstand, um zu überleben. Nach Erzählungen unserer Alten sind sehr viele auf der Flucht zurückgeblieben. Sie wurden ermordet, gefoltert oder sind verschwunden.“ Sie bewertet die Rolle der Türkei bei der Verschärfung des seit sieben Jahren andauernden Syrienkriegs als „Wiederholung der Geschichte.“ Sie erzählt: „Das Massaker und die Deportationen sind nicht auf die Vergangenheit beschränkt, die Geschichte wiederholt sich bis heute immer noch. Damals haben es die Osmanen getan, heute macht Erdoğan das Gleiche. Ist das, was die Völker Syriens in den letzten Jahren erleiden mussten, denn keine Wiederholung der Geschichte?“

Vor uns lagen zwei Wege“

Rojîn Hedad gibt wieder, was ihre Großeltern ihr über die Tage der Deportationen erzählt hatten: „Die Alten sagten, dass sie zur Zeit der Deportationen zwei Optionen hatten. Die eine war Deportation, die andere der Tod. Die einen waren umgebracht worden, die übrigen wurden mit Gewalt vertrieben. Sie erzählten, dass als sie nach Aleppo gekommen waren, sie einen Platz gefunden hatten, an dem sie sich erholen konnten. Mit der Zeit haben wir uns hier angesiedelt. Wir leben als Geschwister, als armenische Bevölkerung mit der muslimischen, der kurdischen, der arabischen und der assyrischen sowie aramäischen Bevölkerung zusammen. Wir sind wie die Finger einer Hand. Wir sind an einem Ort und wir sind eins.“

Die Kurd*innen sind von der gleichen Politik bedroht“

Rojîn Hedad spricht auch über die Angriffe des türkischen Staates auf Efrîn: „Genauso wie das armenische Volk 1915 vom türkischen Staat ermordet und einer Genozidpolitik ausgesetzt wurde, so wird dies nun dem kurdischen Volk gegenüber getan. Das was in Efrîn passiert, ist ein Beispiel dessen.“ Sie erklärt, dass es keinen anderen Weg gibt, als dass die verschiedenen Komponenten der Bevölkerung zusammenstehen, und spricht in diesem Zusammenhang vom Widerstand von Şêx Meqsûd: „Auf dieses Viertel gab es sehr heftige Angriffe, aber wir haben uns gegenseitig geholfen und die Angriffe gebrochen. Wir standen mit unserer Idee der Geschwisterlichkeit gegen ihre Waffen. Denn diese Idee war stärker als ihre Waffen.“