Unter dem zynischen Namen „Operation Olivenzweig“ startete die Türkei am 20. Januar 2018 einen Angriffskrieg gegen Efrîn, um die kurdische Region im Nordwesten von Syrien aus kolonialistischem Selbstverständnis heraus zu besetzen. Die Bevölkerung leistete 58 Tage Widerstand, bis die Volks- und Frauenverteidigungseinheiten (YPG und YPJ) einen Beschluss zur Evakuierung fassten, um weitere Massaker zu verhindern. Nach jüngeren Schätzungen der Autonomieverwaltung kamen mindestens 1500 Menschen in der Zeit zwischen Kriegsbeginn und der endgültigen Okkupation Efrîns am 18. März 2018 ums Leben.
Bis zur Invasion war Efrîn die stabilste Region Syriens und galt inmitten eines brutal geführten Bürgerkriegs als sicherer Hafen für unzählige Binnenvertriebene aus anderen Teilen des Landes. Der Angriff auf die ehemals nach dem Kantonsprinzip von Rojava selbstverwaltete Region kam zu einem Zeitpunkt, als eine mögliche politische Lösung nach der weitgehenden Zerschlagung der Dschihadistenmiliz „Islamischer Staat“ (IS) wieder vermehrt diskutiert wurde. Bei ihrem Angriffskrieg bediente sich die Türkei der Unterstützung dschihadistischer Milizen, die durch Ankara ausgebildet, ausgerüstet und finanziert worden waren, und setzte unter anderem auch deutsche Waffen – wie etwa Leopard-2-Panzer ein.
Efrîn gehört zu den altbesiedelten Bergländern, die nie von Nomaden bedroht waren, sondern seit der Antike durchgehend besiedelt sind. Dies unterscheidet Efrîn von Kobanê oder der Cizîrê-Region, die erst zwischen den beiden Weltkriegen wieder systematisch unter den Pflug kamen. Der Kanton ist von zwei türkischen Provinzen umschlossen – im Norden von Kilis und im Westen von Hatay, umfasst die Region Çiyayê Kurmenc (oder Kurd Dagh/Dschabal al-Akrad: „Berg der Kurden“) und enthält die Städte Efrîn im Zentrum und darüber hinaus Şêrawa, Cindirês, Mabeta, Reco, Bilbilê, Şiyê und Şera. Der Name Efrîn bedeutet auf Kurdisch „gesegnete Schöpfung“.
Offiziell, um sich selbst zu verteidigen, schaffte der türkische Staat relativ schnell Fakten in Efrîn, deren Bevölkerung zu mindestens 95 Prozent kurdisch war: Über 400.000 Menschen wurden vertrieben, ihre Häuser und Felder beschlagnahmt. Angesiedelt wurden überwiegend turkmenische und arabische Familien aus allerlei Ländern, bei denen es sich hauptsächlich um Angehörige der Besatzungstruppen handelt. Die kurdische Sprache wurde faktisch ausradiert, die Namen der meisten Straßen, Plätze, öffentlichen und historischen Orte im Kanton sind mit den Namen von türkischen und islamischen Persönlichkeiten ausgetauscht und insbesondere nach solchen benannt worden, die Verbrechen gegen das kurdische Volk begangen haben. Alleinige Amts- und Unterrichtssprachen sind Türkisch und Arabisch. In allen Schulen ist das islamische Rechtssystem (Scharia) Pflichtfach.
Kulturgüter wie archäologische Stätten wurden geplündert beziehungsweise zerstört, auf einigen historischen Siedlungshügeln hat die Türkei sogar militärische Stützpunkte errichtet. Christliche, ezidische und alevitische Gotteshäuser wurden unter Schirmherrschaft türkischer Behörden in Moscheen verwandelt, nahezu alle Friedhöfe der religiösen Minderheiten gelten mittlerweile als vernichtet. Und auch die Natur Efrîns, die berühmt war für ihren historisch bis in die Zeit vor Christi Geburt zurückreichenden Olivenanbau und die Seife aus Olivenöl, blieb von der Unterdrückung der Besatzungstruppen nicht verschont. Mehreren großen Abholzperioden fielen zwei Drittel des damaligen Waldbestandes zum Opfer. Die Oliven und das Öl gelangen über die Türkei auf den Weltmarkt und die Einnahmen finanzieren sowohl ein unterdrückerisches Regime als auch Gruppen, die schwerste Kriegsverbrechen begehen. Damit machen sich EU-Staaten zu Helfern von Terrorfinanzierung und Krieg.
Heute, fünf Jahre nach Beginn der Besatzung Efrîns, ist die große Masse der angestammten Bevölkerung geflohen. Gerade einmal 15 Prozent der ursprünglichen kurdischen Einwohner:innen sind geblieben, einige Quellen sprechen sogar von weniger als zehn Prozent. Dabei handelt es sich zumeist um ältere Menschen. Die meisten Vertriebenen leben bis heute in Zeltstädten im benachbarten Kanton Şehba. In der dortigen Stadt Tel Rifat fand am Freitag anlässlich des Jahrestags der Invasion eine große Demonstration statt, an der sich tausende Menschen beteiligten. Hinter mehreren Fronttransparenten mit einschlägigen Aussagen, etwa „Efrîn gehört uns und wird es immer bleiben“, „Schweigen bedeutet Zustimmung“, „Der Widerstand gegen die Besatzung dauert an“ und „Nein zum türkisch-dschihadistischen Expansionismus“ zog der Marsch vom Süden der Stadt bis in das Zentrum von Tel Rifat. Viele Menschen trugen einen Olivenzweig als Friedenssymbol, auf zahlreichen Plakaten blickten die Konterfeis von Gefallenen des Efrîn-Widerstands auf die Menge. Lautstark und kämpferisch brachte die Menge ihre Verbundenheit mit den Toten zum Ausdruck – „Şehîd namirin!“, zu Deutsch: Die Gefallenen sind unsterblich.
Bekir Elo, der Ko-Vorsitzende der Exilorganisation des Exekutivrats von Efrîn, bedankte sich bei der vertriebenen Bevölkerung von Efrîn für ihre Ausdauer und Geduld, ihren Mut, den Zusammenhalt sowie die Liebe untereinander und zu ihrer alten Heimat – und für ihre Entschlossenheit zum Kampf gegen die Besatzung. „Das widerständige Volk von Efrîn macht dem türkischen Staat und seinen Verbündeten mit seiner kämpferischen Haltung jeden Tag aufs Neue bewusst, dass das kurdische Volk sich den Plänen der Besatzer nicht unterwerfen wird. Wir werden Widerstand leisten, bis der Sieg unser ist und wir in unsere Heimat zurückkehren. Der internationalen Gemeinschaft zeigen wir mit unserem Willen auf, wofür Efrîn noch steht: Für das Versagen des Westens, menschliche Werte und das Völkerrecht zu bewahren. Der Angriff war eine Tragödie, die niemals hätte passieren dürfen. Doch sie hat sich wiederholt; in Serêkaniyê und in Girê Spî. Und trotz neuerlicher Kriegsdrohungen ist bereits jetzt abzusehen, welches Bild wir beim nächsten Angriff erblicken werden: Ein Versagen des Westens, menschliche Werte und das Völkerrecht zu bewahren.“
Elo ging auch auf den Prozess der „Annäherung“, den Russland mit dem Ziel einer Normalisierung der Beziehungen zwischen Ankara und Damaskus in Gang gesetzt hat. „Selbst unsere jüngsten wissen, dass eine türkisch-syrische Verständigung keine friedensstiftende Wirkung haben wird. Es geht einzig um die Strategie von zwei Massenmördern, die die Syrien-Frage seit Jahren ungelöst lassen, um ihre Interessen durchzusetzen. Für uns steht fest: Die einzige Lösung für alle Kriege und Konflikte ist der Aufbau eines demokratischen und dezentral organisierten Systems. Ein Beispiel existiert bereits: Die Autonomie Administration von Nord- und Ostsyrien. Wir rufen den Sicherheitsrat der Vereinten Nationen und alle internationalen Menschenrechtsorganisationen auf, ihren Pflichten nachzukommen und Verantwortung zu übernehmen. Die Besatzung Efrîns muss enden, damit die Bevölkerung zurückkehren kann.“