Festhalten am Leben und am Kampf
Siwar Rojdem verlor durch eine IS-Mine beide Beine. Doch mit Hilfe anderer Versehrter fand er zurück ins Leben und setzt den Kampf für die Revolution fort.
Siwar Rojdem verlor durch eine IS-Mine beide Beine. Doch mit Hilfe anderer Versehrter fand er zurück ins Leben und setzt den Kampf für die Revolution fort.
Am 19. Juli wurde die Revolution von Rojava elf Jahre alt. Sie schuf eine demokratische Alternative und brach dem insbesondere von der Türkei unterstützten „Islamischen Staat“ (IS) das Rückgrat. Zahllose Menschen sind bei diesem Kampf gefallen oder wurden verletzt. Siwar Rojdem ist einer dieser Versehrten. Bei der Befreiung des Dorfes Til Hamam aus den Händen des IS verlor er beide Beine. Trotz dieser schmerzhaften Erfahrung bleibt er engagiert und setzt seine Beteiligung an der Revolution fort.
Auf den Spuren seiner gefallenen Angehörigen
Siwar Rojdem stammt aus Til Temir und lernte die Verteidigungseinheiten durch die Revolution in Rojava kennen. Als die YPG in der Nähe einen Kontrollpunkt errichteten, begann seine Beziehung zu den Kämpfer:innen. Er brachte ihnen immer wieder Holz und Brennstoff, damit sie sich im feucht-kalten nordsyrischen Winter aufwärmen konnten. Schnell entwickelte sich dies zum Vorwand, um die Kämpfer:innen zu besuchen. Durch den Eindruck, den die Gruppe auf ihn machte und ihren Umgang miteinander, wurde er neugierig auf die Ideen des Apoismus und begann sich mit Öcalans Ideologie auseinanderzusetzen. Viele Mitglieder seiner Familie schlossen sich der YPG im Zuge der Revolution an. Auch er selbst wollte sich anschließen, wurde jedoch abgelehnt, da bereits viele enge Angehörige in den Volksverteidigungseinheiten kämpften. Daher blieb er als Automechaniker tätig und trug auf diese Weise zur Revolution bei, indem er die an der Front beschädigten Fahrzeuge reparierte. Als er von dem Tod seines Cousins in Xeybîş hörte und kurz darauf erfuhr, dass auch dessen Bruder im Kampf gefallen war, ließ er sich nicht mehr aufhalten. Er bewaffnete sich und brach zur Front auf.
Erste Kriegserfahrung in Xeybîş
An vorderster Front kämpfte Rojdem zum ersten Mal in Xeybîş. Dort war er nicht nur in direkte Gefechte involviert, sondern auch für die Verwaltung der Munition zuständig. Während zu diesem Zeitpunkt bereits viele Orte in der Umgebung befreit waren, befanden sich einige noch unter der Besatzung des IS. Zu dieser Zeit hatte die „Şehîd Gelhat“-Offensive zur Befreiung der Dörfer um Kobanê und die „Şehîd Rûbar Qamişlo“-Offensive zur Befreiung der Ortschaften in Cizîrê begonnen. Er beteiligte sich an letzterer: „Wir befreiten zwei oder drei Dörfer pro Tag. Wir waren bis zum Berg Evdilezîz vorgedrungen. Wir hatten in der ‚Şehîd Rûbar‘-Offensive viele Gefallene und schworen, uns für sie zu rächen. Ich hatte meinen Traum verwirklicht, indem ich als Verantwortlicher und Schütze eines DSchK-Geschützes an der Offensive teilnahm. Şehîd Rojdem, mein Cousin, war ebenfalls DSchK-Schütze gewesen. Ich wollte in seine Fußstapfen treten. Ich wollte immer als DSchK-Schütze an den Kämpfen teilnehmen und die Freund:innen übergaben mir dazu Şehîd Rojdems Geschütz.“ DSchK-Geschütze werden auf Pickups montiert und dienen als hochmobile Geschützstellungen. Das Kämpfen mit einer DSchK ist besonders gefährlich, da sie durch die erhöhte Position und den exponierten Charakter der Pickups, sichtbare Ziele bieten.
IS-Mine reißt Rojdem beide Beine ab
Rojdem berichtete vom Tag seiner Verletzung: „Heval Ednan und ich hielten uns im Dorf Til Hamam auf. Wir warteten auf die Reparatur meines Geschützes, das bei einem Gefecht beschädigt worden war, und hatten mit Heval Ednans Geschütz Verteidigungsstellung bezogen. Wir hatten viele Dörfer in der Region befreit, aber viele Dorfbewohner kannten uns nicht und unterstützten weiterhin den IS. Gleichzeitig versteckten sich viele Söldner in den Häusern und warteten auf eine Gelegenheit für einen Angriff. Wegen der Sommerhitze standen Ednan und ich im Schatten einer Hauswand neben dem DSchK-Pickup und beobachteten die Umgebung. Die Freunde hatten am Morgen auch meine DSchK gebracht. Ich war erleichtert, als ich sah, dass sie kampfbereit war. Einige der Freunde waren an diesem Tag ebenfalls gekommen. Wir begannen, Gräben auszuheben. In der Zwischenzeit näherten sich uns aus der Ferne Menschen auf Motorrädern. Als sie uns erreichten, fragten wir sie, warum sie gekommen seien; sie sagten, dass sie ihr Hab und Gut nicht hatten mitnehmen können, nachdem der IS ihre Häuser besetzt hatte, und dass sie ihre Sachen holen wollten. Wir warnten sie wegen der von den Söldnern verlegten Minen und sagten, sie sollten erst kommen, wenn die Häuser entmint seien. Die Gruppe blieb nicht lange im Dorf. Nachdem sie ihre Sachen aufgeladen hatten, fuhren sie wieder. Dann fuhr ein weiteres Motorrad mit einem Kind darauf auf uns zu, aber diesmal hatten wir den Besitzer des Motorrads schon mehrmals im Dorf Xeybîş gesehen und ließen ihn nicht in sein Haus, weil er unseren Verdacht erregte. Ednan und ich gingen stattdessen zu dem Haus, auf das der Mann gezeigt hatte. Wir durchsuchten den ersten Raum. Als wir auf den zweiten Raum zusteuerten, sagte mir meine innere Stimme, dass ich diese Tür nicht öffnen solle. Ich war erleichtert, als Heval Ednan die Tür nicht anfasste. Er öffnete die Tür zum dritten Raum, der sauber war. Er bewegte sich nun auf die Tür des zweiten Zimmers zu, aber ich fühlte mich immer noch unwohl. Heval Ednan öffnete die Tür, und ich wurde aufgrund der Druckwelle der Explosion gegen die Wand geschleudert. Später erfuhr ich, dass Heval Ednan gefallen ist. Ich war unverletzt. Eine weitere Mine explodierte aber, als ich mich aufrichtete und einen Schritt machte. Ich öffnete die Augen und befand mich plötzlich im Krankenhaus. Durch den Druck und die Medikamente, die mir im Krankenhaus gegeben wurden, war ich desorientiert und manchmal fragte ich mich, warum ich überhaupt dort war. Ich schlief immer wieder ein.
„Wir verließen als lebende Gefallene das Krankenhaus“
Als ich wieder zu mir kam, waren 26 Tage vergangen. Ich öffnete die Augen hob die Decke und sah, dass mir beide Beine oberhalb des Knies amputiert waren. Ich konnte es nicht glauben. Ich deckte die Beine zu und deckte sie wieder auf. Dies wiederholte ich eine lange Weile. Schließlich legte ich mich wieder zurück und schloss die Augen. Die Frage, wie mein Leben nun weitergehen sollte, beschäftigte mich ständig, ohne dass ich davon genug bekommen konnte. Meine Familie und enge Freunde um mich herum bemerkten meine Verunsicherung. Eines Tages besuchten mich zwei Freunde, die ebenfalls beide Beine oberhalb des Knies verloren hatten. Dieser Tag änderte mein Leben. Ich sah, wie sie sich weiterhin voller Hingabe dem Kampf und der Gemeinschaft verschrieben hatten. Nach zweieinhalb Monaten reichten wir uns als drei lebende Gefallene die Hände und verließen gemeinsam das Krankenhaus.“