Egîd Kobanê hat seine Hoffnung nie verloren

Egîd Kobanê hat bei der Befreiung der Gebiete um Serêkaniyê in Nordsyrien ein Auge verloren und geriet kurzzeitig in die Gefangenschaft des IS. Er berichtet über seine Erlebnisse.

Egîd Kobanê hat in den Reihen der Volksverteidigungseinheiten (YPG) in Rojava gekämpft. Er stand an vorderster Front bei der Befreiung des Umkreises von Serêkaniyê (Ras al-Ain). Dabei verlor er ein Auge und geriet in die Hände von Dschihadisten.

Nach der Revolution von Rojava hatte die Türkei bereits in der zweiten Hälfte des Jahres 2012 große Gruppen des Al-Qaida-Ablegers Jabhat al-Nusra gemeinsam mit kurdischen Kollaborateuren über die Grenze geschickt, die den größten Teil von Serêkaniyê besetzten und ein Schreckensregime errichteten. Wie Gerichtsakten aus der Zeit belegen, war auch der „Islamische Staat“ (IS) an der Besetzung beteiligt. Insbesondere Frauen wurden mit Körperstrafen und schweren Übergriffen terrorisiert, ezidische Dörfer ausgelöscht, Kirchen zerstört und es wurden viele andere schwere Verbrechen begangen. Serêkaniyê sollte für die Türkei zum Brückenkopf der Vernichtung der gerade begonnenen Revolution von Rojava werden. Die Türkei brachte über den damals offenen Grenzübergang permanent logistische und personelle Unterstützung für die Besatzer. Dennoch begannen kleine Gruppen von eingeschlossenen YPG-Einheiten gemeinsam mit der Bevölkerung trotz zahlenmäßiger und technischer Überlegenheit der Besatzer mit der Befreiung der Stadt von den östlichen Vierteln her. Aufgrund eines Einfalls von al-Nusra bei Elok im Osten waren die Verteidigungskräfte zunächst auch von dieser Seite her weitgehend von der Versorgung abgeschnitten.

Vertreibung der Besatzer

Dem war am 19. Dezember 2012 ein Angriff der vom Al-Qaida-Ableger al-Nusra angeführten protürkischen Söldnerkoalition auf die kurdische Bevölkerung und die Verteidigungskräfte vorausgegangen. Abid Xelîl, der Vorsitzende des Volksrats von Serêkaniyê, wurde von den Besatzern ermordet. Anschließend kam es zu heftigen Gefechten um Serêkaniyê. Es sollten Verhandlungen folgen. Bei den „Gesprächen“ wurden der Aktivist Selah Eyo Şêxo und das Asayîş-Mitglied Xalid Omar Hemo von Söldnern gefangen genommen und ermordet. Das brachte das Fass zum Überlaufen. Nun kam es in Serêkaniyê zu einem ausgeweiteten Kampf um die Befreiung der Stadt von al-Nusra und ihren Verbündeten, der in die Vertreibung der Besatzer mündete.

Egîd Kobanê erinnert sich

Doch noch befanden sich weite Teile des Umlands unter IS-Kontrolle. Egîd Kobanê war einer derjenigen, die nach der Befreiung von Serêkaniyê an vorderster Front kämpften, um einen Korridor nach Kobanê zu öffnen: „Zu Beginn des Jahres 2014 hatte der Krieg bereits ein hohes Niveau erreicht. Die Söldner und der türkische Staat hatten damit begonnen, sich gegen Kobanê zu wenden. Wir wollten einen Korridor von Sêrekaniyê nach Kobanê öffnen. Wenn das nicht funktionierte, wollten wir wenigstens vor Ort bleiben und Aktionen durchführen. Zu dieser Zeit waren Dörfer wie Mabrûka in der Hand der Söldner. Wir kämpften gerade um die Befreiung von Rawiya, Dehman und Mabrûka.

An vorderster Front

In der Anfangsphase der Offensive wollten die Freund:innen, dass wir in der Nachhut bleiben, weil wir keine Kampferfahrung hatten. Wir bezogen Verteidigungsstellungen in den befreiten Dörfern. Ein Freund wurde bei den Kämpfen getötet, und als er hinter die Front gebracht wurde, nahm ich seine Keffiyeh. Es war Heval Behrî. Heval Behrî hatte die YPG durch mich kennengelernt und sich entschlossen, ihr beizutreten. Als ich sah, dass er gefallen war, habe ich darauf bestanden, dass ich an die Front gehe. Denn die größte Rache für ihn wäre die Befreiung der besetzten Gebiete, und ich wollte mich an den Offensiven beteiligen. Ich hatte mein Ziel erreicht und mich einer Gruppe angeschlossen, um das Dorf Dehman zu befreien. Die Kämpfe waren so heftig, dass wir vor lauter Kugeln den Kopf nicht heben konnten. Zwischen den Söldnern und uns lagen nur fünf Meter Abstand. Wir mussten das Dorf gruppenweise und koordiniert von den Söldnern befreien. Ich war in der Angriffsgruppe, denn mit der Befreiung des Dorfes würde ich Heval Behrî rächen können.

Die Fronten vermischen sich

Als erstes erreichte ich eine sichere Stellung mit gefallenen und verletzten Freund:innen. Als ich zurückkehrte, erreichte uns die Nachricht, dass die Söldner mit einer Fahrzeugbombe angreifen würden. Bevor wir uns in Position bringen konnten, raste das Auto auf uns zu und explodierte. Plötzlich konnten wir die Hand nicht mehr vor Augen sehen. Wir konnten aufgrund des Staubs unsere Augen nicht öffnen und waren wie betäubt von der Heftigkeit der Explosion. Die Kämpfe waren so heftig geworden, dass wir nicht mehr zwischen Freund und Feind unterscheiden konnten. Es gab Gefallene und Verwundete auf unserer Seite. Heval Şahoz, zwei Freundinnen und ich gingen wieder in Stellung. Drei Männer in Tarnkleidung zogen wie Gespenster an uns vorbei und bewegten sich auf die Söldner zu. Als wir ‚Heval! Geh nicht in diese Richtung! Das ist IS-Gebiet ...‘ riefen, kam es zu einem kleinen Gefecht. Wir töteten zwei von ihnen, und der andere entkam.

Ich legte mich an der Seite von Şehîd Şahoz nieder“

Das Dorf Dehman befand sich schon seit langem in der Hand des IS. Daher hatten sie ihre Stellungen, Tunnel und unterirdischen Befestigungen verstärkt. Nach der Explosion des Autos bezogen die Söldner Angriffspositionen und kamen aus Häusern, unterirdischen Tunneln und Verteidigungsstellungen. Als die Rakete explodierte, brach Heval Şahoz durch die Druckwelle neben mir zusammen. Er fiel. Ich glaubte, nur Şahoz sei gefallen, aber später wurde mir klar, dass auch andere Freund:innen gefallen waren. Es waren sehr viele Söldner, und wir hatten kaum noch Munition. Als ich aufstand, spürte ich einen leichten Schmerz, ich konnte meine Umgebung nicht gut sehen. Ich ging näher an Şahoz heran und versuchte zu klären, ob er es war oder nicht. Es war Şahoz. Als ich aufzustehen versuchte, fiel ich zu Boden, ich konnte das Gleichgewicht nicht halten, ich konnte nichts mehr vor mir erkennenn. Ich rief nach meinen Freund:innen, aber es war nichts zu hören. Ich rief erneut, aber es kam keine Antwort. Mir wurde klar, dass auch die anderen Freund:innen gefallen waren. Also legte ich mich neben Şahoz, nahm die AK und wartete regungslos. Ich fuhr mir mit der Hand über das Gesicht. Ein Auge hing heraus, und das andere Auge war durch den Pulverdampf getrübt.

Ich wartete still und voller Hoffnung“

Ich war nicht in der Lage, mich zu bewegen. Wenn ich mich bewegt hätte, wäre ich in die Richtung der Söldner gelaufen. Die Kämpfe dauerten lange an. Ich blieb lange an dieser Stelle. Aber wenn ich nicht gehen würde, bestünde die Gefahr, dass ich gefangen genommen werde. Wenn ich aber ginge, könnte mich, da ich nichts sehe, verlaufen und gefangen genommen werden. Ich entschloss mich, komme was wolle, zu gehen. ‚Du musst es versuchen‘, sagte ich mir und stand auf. Nachdem ich eine Weile unterwegs war, wurde ich ohnmächtig. Als ich aufwachte, befand ich mich mitten in den Kämpfen. Als die Kämpfe aufhörten, stellte ich fest, dass ich mich auf der Seite befand, die näher an den Söldnern war, und die verwundeten Söldner lagen verstreut um mich herum. Meine Haare und mein Bart waren sehr lang geworden. Die Zahl der Verwundeten war sehr hoch; sie brachten alle weg, ohne sie genau zu untersuchen. Sie hielten mich wegen meiner Haare und meines Bartes für ein Bandenmitglied und nahmen mich mit. Sie wussten nicht, wer ich war. Ich wartete schweigend. Ich verlor meine Hoffnung nicht, denn ich wusste, dass die Freund:innen kommen würden. Meine einzige Angst war es, das Dorf zu verlassen. Plötzlich begannen Kugeln durch die Luft zu pfeifen, und ich seufzte tief, als ich das Trillern der Kämpferinnen hörte. Die Söldner hatten einen schweren Schlag erlitten. Als Heval Newal rief: ‚Heval Egîd!‘, erkannte ich, dass sie auf mich zukam. Sie fragte mich: ‚Lebst du?‘ Ich konnte nicht sprechen, drückte nur ihre Hand.“