Mit der Besatzung Efrîns im März 2018 musste hunderttausende Menschen aus ihrer Heimat in die Regionen Şehba und Şerewa flüchten, um dort Schutz zu suchen. Noch zwei Jahre zuvor hatte die Region Şehba selbst aufgrund der Besetzung durch den IS und der Al-Nusra-Front einen schlimmen Krieg erlebt, weswegen die Region völlig verwüstet war. In vielen verlassenen und zerstörten Häusern befanden sich noch die Minen des IS. Die Geflüchteten aus Efrîn mussten sich dennoch zunächst in diesen leerstehenden Dörfern und Stadtteilen niederlassen. Erst nach einiger Zeit wurden mit Unterstützung der Föderation Nord- und Ostsyriens Camps errichtet, in denen die Geflüchteten Schutz fanden. Es entstanden im Şehba-Gebiet die Camps Berxwedan, Serdem und Efrîn. Im Bezirk Şerewa wurde das Veger-Camp errichtet. Hier leben die Menschen aus Efrîn nun mittlerweile seit knapp eineinhalb Jahren. Şêxo İbrahim ist Teil der Leitung im Volksrat des Berxwedan-Camps. Er gab uns im Gespräch Einblicke in das Organisierungsmodell des Camps, den Alltag und die dringenden Bedürfnisse der Menschen.
Kommunen als Mittel zur Selbsthilfe
Şexo İbrahim erklärt uns, dass die Gründungsphase des Camps mit einem Prozess der Selbstorganisierung und des Aufbaus des eigenen Verwaltungssystems einherging:
„Die Welt schwieg, als Efrîn durch einen internationalen politischen Deal, das einem Komplott gleichkommt, der Besatzung freigegeben wurde. Die Menschen aus Efrîn hatten 58 Tage lang einen historischen Widerstand gegen die Besatzer geleistet. Wir wussten von Anfang an, dass wir hier nicht nur gegen den türkischen Staat kämpfen, sondern gegen alle Staaten, die Teil dieses Komplotts waren. Als uns kein anderer Weg blieb, musste wir nach Şehba emigrieren. Dort hatten wir nicht nur Platzprobleme, sondern auch kaum Möglichkeiten. Die Menschen aus Efrîn ließen sich aber auch hiervon nicht entmutigen. Fünf bis sechs Familien kamen anfangs in einem Haus unter.
Um den Bedürfnissen der Menschen gerecht zu werden, haben wir dann schnell dieses Camp errichtet. Bereits am 23. März stand das Camp. Die Menschen leisteten aktiv Unterstützung bei der Errichtung der Zelte. Das Camp wuchs schnell. So erweiterten wir nicht nur ständig die Größe des Camps, sondern fingen auch an, unser eigenen Selbstverwaltungsmodell aufzubauen. Denn vor Ort gab es gar nichts, noch nicht einmal Sanitäranlagen. Wir bildeten die erste Kommune und mit ihrer Hilfe fingen die Menschen an, sich um die dringendsten Notwendigkeiten selbst zu kümmern. Die ersten zwei Monate waren sehr schwer. Doch dann wuchs die Zahl der Kommunen. Mittlerweile sind es 14 im ganzen Camp. Jede Kommune wählt ihre Ko-Vorsitzenden und besteht aus verschiedenen Kommissionen. Die Kommunen kümmerten sich um die notwendigen Fragen des Alltags selbst. Dazu gehörten anfangs die Errichtung von Toiletten, Waschplätzen, sowie die Wasser- und Brotversorgung. In den ersten drei Monaten schaute keine einzige Hilfsorganisation im Camp vorbei. Die Bevölkerung kümmerte sich selbst um ihre Bedürfnisse und erhielt hierbei lediglich Unterstützung von der Autonomieverwaltung.“
„Die Bevölkerung bereitet sich auf die Rückkehr vor“
Das Ziel der Menschen aus Efrîn bleibe weiterhin die Rückkehr in ihre Heimat, berichtet Ibrahim. Doch mittlerweile habe sich auch das Selbstverwaltungssystem im Camp weiterentwickelt, erklärt er und fährt fort: „Heute gibt es einen 23-köpfigen Rat, welcher die Arbeiten im Camp koordiniert. Wie gesagt, anfangs war es sehr schwierig. Die Menschen aus Efrîn hatten ihre Familienmitglieder im Krieg gegen die Besatzung verloren. Erstmals waren sie mit solch einer Situation konfrontiert. Doch dann bildeten sie langsam aber sicher ihr eigenes System. Es gab ja über sieben Jahre entsprechende Erfahrungen mit der Selbstorganisierung auch schon in Efrîn. Jetzt wurde das System der Kommunen und Räte auch nach Şehba übertragen. In unserem Berxwedan-Camp leben heute 720 Familien bestehend aus insgesamt 2.900 Menschen. Es sind verschiedene Komitees entstanden. Dazu gehören die Komitees für Kommunalverwaltung, für Frauen, für gesellschaftliche Angelegenheiten und für Frieden und Gerechtigkeit. Auf diese Weise regeln der Rat und die Kommunen die Alltagsprobleme der Menschen. Jeden Monat halten der Rat und die Kommunen Versammlungen mit der Gesamtbevölkerung ab. Auch Bildungseinheiten für die Bevölkerung gibt es. Bei dem Bildungsangebot geht es um die Fragen der Selbstorganisierung, aber auch um das Ziel der Rückkehr nach Efrîn.
Um die Probleme der Sauberkeit im Camp. die Wasserversorgung und ähnliche Fragen kümmert sich die Kommunalverwaltung. Es gibt eine 30-köpfige Sicherheitseinheit im Camp, die hier ständig Wache hält. Das Komitee für Frieden und Gerechtigkeit regelt die Streitigkeiten unter der Campbevölkerung. Dann gibt es hier eine selbstorganisierte Schulbildung für die rund 700 Kinder. Gelehrt wird in kurdischer und arabischer Sprache, aber es gibt auch Unterricht in den Schulfächern Englisch und Französisch. Das ist in Grundzügen unser System hier. Und dieses System ist eine dringende Notwendigkeit. Denn wenn wir uns nicht selbst um unsere Probleme kümmern, sind wir den feindlichen Kräften ausgeliefert. Das System ist also auch ein Selbstschutz. So wie wir unsere Alltagsbedürfnisse regeln müssen, benötigen wir auch eine Versammlungs- und Bildungsroutine hier. Die Bevölkerung ist sich dessen mittlerweile auch bewusst. Am Anfang fiel es ihnen etwas schwer. Einige wollten nicht daran teilnehmen, gar das Camp verlassen. Doch das hat sich verändert. Für die Leute sind die Absichten der Besatzer heute besser ersichtlich. Sie verstehen eher, worauf die feindliche Politik der Besatzer abzielt und welche Haltung sie dagegen einnehmen müssen.“
Dem Embargo des Regimes ausgesetzt
Die gegenwärtig größten Schwierigkeiten erleben die Campbewohner*innen im Gesundheitsbereich. Das habe vor allem damit zu tun, dass die Zufahrtswege nach Şehba durch die Kräfte des Assad-Regimes geschlossen wurden.
„Die Frage der Gesundheitsversorgung ist eine große Herausforderung. Im Camp gibt es ein Gesundheitszelt des Kurdischen Halbmondes (Heyva Sor a Kurdistanê). Doch bei schwerwiegenden Gesundheitsproblemen fehlen uns die entsprechenden Ärzte. Das gilt beispielsweise für Augenärzte, Neurologen oder Psychologen. Die gibt es hier im Camp einfach nicht und die Menschen erhalten auch nicht die Möglichkeiten, diese Ärzte außerhalb des Camps aufzusuchen, denn das Regime hat die Zufahrtswege in die Region blockiert. Die Folge ist, dass die Zahl der Menschen, die in diesen Bereichen ärztliche Hilfe benötigen, stetig steigt. Dann leben hier sehr viele ältere Menschen. Im Sommer wird es sehr heiß, im Winter wiederum ist das Klima äußerst kalt. Jetzt ist Sommer und es gibt keinerlei Klimaanlagen. Die Älteren unter uns leiden stark darunter. Wie sehr die Bevölkerung und die Föderation auch versucht, Hilfe zu leisten, es reicht leider nicht aus.
Auch die Arbeitslosigkeit ist ein Problem. Wir haben im Camp mittlerweile eine „Einkaufsmeile" aus 80 kleineren Geschäften errichtet. Das leistet etwas Abhilfe. Doch in Şehba gibt es im Allgemeinen kaum Arbeit. In manchen Familien gibt es einfach auch keine Menschen, die einer Arbeit nachgehen könnten. Diese sind dann auf Hilfen angewiesen. Von draußen kommt aber kaum Hilfe an. Die Hilfsorganisation des syrischen Halbmonds hilft uns zwar etwas aus. Doch die restlichen Probleme müssen wir mit unseren eigenen Mitteln regeln“, erklärt Ibrahim, der abschließend zur internationalen Unterstützung für die Bewohner*innen des Camps aufruft.