Der Europäische Gerichtshof (EuGH) hatte am 19. November 2020 ein maßgebliches Urteil zum Schutz von Menschen getroffen, die sich durch Flucht einem Militär- bzw. Wehrdienst entzogen hatten, durch den sie sich mutmaßlich an Kriegsverbrechen hätten beteiligen müssen. Der EuGH hatte außerdem festgestellt, dass die hohe Wahrscheinlichkeit bestehe, dass der syrische Staat die Flucht vor dem Wehrdienst als einen oppositionellen Akt auslegen und dies zum Anlass für Verfolgung nehmen könnte.
Änderung der Entscheidungspraxis um Familiennachzug zu verhindern
Bis 2015/16 wurde die Mehrheit der Männer im Alter zwischen 18 bis 42 Jahren, die sich dem syrischen Kriegsdienst entzogen hatten, durch Schutztitel nach der Genfer Flüchtlingskonvention (GFK) geschützt. Dabei handelte es sich um einen Status, der damals keine großen Unterschiede zum Titel des subsidiären Schutzes aufwies.
Als dann der Familiennachzug für subsidiär Geschützte Anfang 2016 ausgesetzt und 2018 abgeschafft und durch eine kontingentierte Ermessensregelung ersetzt worden war, erhielten immer mehr syrische Kriegsdienstflüchtlinge nur noch einen subsidiären Schutzstatus. Daher entstand der dringende Verdacht, dass das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF) seine Entscheidungspraxis änderte, um Familiennachzug zu verhindern. Seit der Aussetzung des Familiennachzugs beträgt der Prozentsatz der subsidiär Schutzberechtigten unter männlichen Flüchtlingen aus Syrien im Alter von 18 bis 42 Jahren 71 Prozent, während nur 5,7 Prozent einen Schutzstatus nach der Genfer Flüchtlingskonvention erhalten haben. Der Europäische Gerichtshof verwarf diese Praxis und stellte jedenfalls in Bezug auf syrische Flüchtlinge fest, dass eine starke Vermutung dafür spreche, dass die Flucht und Verweigerung des Militärdienstes aus politischen oder religiösen Gründen oder wegen der Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe erfolgte, so dass in diesen Fällen eine Flüchtlingsanerkennung geboten sei.
Nur 5,6 Prozent der männlichen Erwachsenen aus Syrien erhalten GFK-Schutz
Doch statt die Entscheidungspraxis nach dem EuGH-Urteil zu ändern, sank der Prozentanteil der nach der GFK geschützten männlichen syrischen Staatsbürger im „wehrpflichtigen“ Alter weiter auf 5,6 Prozent, wie aus einer Kleinen Anfrage der innenpolitischen Sprecherin der Fraktion DIE LINKE, Ulla Jelpke, hervorgeht. Damit widerspricht das dem Innenministerium untergeordnete BAMF sowohl dem EuGH-Urteil als auch dem Lagebericht des Auswärtigen Amtes zu Syrien, in dem ein wesentliches drastischeres Bild der Situation in Syrien als beim BAMF gezeichnet wird. Das BAMF behauptet, Syrienrückkehrer erwarteten „keine nennenswerten Schwierigkeiten“. Jelpke fragt angesichts dieses Widerspruchs: „Ich möchte wissen, ob Bundesinnenminister Seehofer diese Praxis des BAMF angeordnet hat oder ob das BAMF hier eigenmächtig handelt. Und was sagt das Auswärtige Amt dazu, dass das BAMF seine Lageeinschätzung in den Wind schlägt? Wir werden hierzu Aufklärung im Innenausschuss des Bundestages verlangen.“
„BAMF verweigert Umsetzung höchstrichterlicher Vorgabe“
Ulla Jelpke bezeichnet das Vorgehen des BAMF als „inakzeptabel“ und erklärt: „Dem EuGH zufolge droht Wehrdienstflüchtlingen aus Syrien mit hoher Wahrscheinlichkeit eine Verfolgung durch den syrischen Staat. Ihnen muss deshalb ein GFK-Schutzstatus erteilt werden. Das BAMF verweigert nun die Umsetzung dieser höchstrichterlichen Vorgabe, indem es behauptet, es gebe eine ‚Normalisierung‘ in Syrien und Rückkehrer hätten ‚keine nennenswerten Schwierigkeiten‘ zu befürchten.
Das aber widerspricht eklatant dem jüngsten Lagebericht des Auswärtigen Amtes zu Syrien, wonach es willkürliche Verhaftungen und Folter bis zum Tod bei Rückkehrern gebe. Amnestieregelungen sind laut Lagebericht nahezu wirkungslos und Rückkehrer würden von Teilen der Sicherheitskräfte und Bevölkerung als ‚Feiglinge und Fahnenflüchtige, schlimmstenfalls sogar als Verräter bzw. Anhänger von Terroristen‘ angesehen.
Eigentlich sind die Lageberichte des Auswärtigen Amtes für die Entscheidungspraxis des BAMF von maßgeblicher Bedeutung. Hier aber wird der Lagebericht missachtet, damit der GFK-Schutzstatus verweigert und den Betroffenen in der Folge ein Recht auf Familiennachzug abgesprochen werden kann. Das ist einfach unerträglich.“