Vom Militär getöteter Dorfbewohner als „Terrorist“ denunziert

Der in Licê vom Militär getötete Kurde Mehmet Yıldırım ist von der türkischen Regierung als „Terrorist“ denunziert worden. Angeblich sei der vierfache Vater in Anschläge gegen staatliche Kräfte verwickelt gewesen. Nachbarn widersprechen.

Extralegale Hinrichtung

Der in Licê vom Militär getötete Kurde Mehmet Yıldırım ist von der türkischen Regierung als „Terrorist“ denunziert worden. Das Innenministerium gab am Samstag vor, dass der Name des 45 Jahre alten Vaters von vier Kindern schon länger auf der „Grauen Liste“ der steckbrieflich gesuchten „Terroristen“ gestanden habe. Begründet wurde die Listung mit einer vermeintlichen Beteiligung Yıldırıms an einer Reihe von „Terroranschlägen“ gegen Sicherheitskräfte und Zivilisten, die von der Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) begangen worden seien. Das Umfeld des Mannes widerspricht den Ausführungen des Ministeriums und wirft der Armee eine extralegale Hinrichtung vor.

Was war passiert? Am Freitagabend wurde die Nenyas-Siedlung im ländlichen Gebiet von Licê von türkischen Militärs umstellt. Die Belagerung stand im Zusammenhang mit einer Armeeoperation, die am vergangenen Sonntag in der Region im Norden der Provinz Amed (tr. Diyarbakır) eingeleitet worden war. Gegen 22.15 Uhr (Ortszeit), so schilderte ein Bewohner der Ortschaft und Zeuge des Vorgangs gegenüber der Nachrichtenagentur Mezopotamya (MA), sei ein kleiner Lieferwagen in das Dorf eingefahren. Wenige Augenblicke später sollen Soldaten, die sich zuvor im gebirgigen Gelände oberhalb der Siedlung in Stellung gebracht hätten, das Feuer eröffnet haben. Die Militärs nahmen das Haus von Mehmet Yıldırım mit Salven aus ihren automatischen Gewehren unter Beschuss, wie Fotos dokumentieren, mutmaßlich wurde zusätzlich auch aus Hubschraubern geschossen. Anschließend seien gepanzerte Fahrzeuge über drei verschiedene Zufahrtswege vor dem Haus vorgefahren.

Das Haus von Mehmet Yıldırım in der Siedlung Nenyas (c) MA

„Nachdem das Feuer eingestellt wurde, hörte man ein leises Wimmern“, zitierte MA den Bewohner. „Es klang wie das Stöhnen eines Verletzten. Wir konnten dem Geräusch nicht folgen, da wir über Lautsprecher angewiesen wurden, unsere Häuser nicht zu verlassen.“ Die Behauptung des türkischen Innenministers Ali Yerlikaya, in Nenyas habe es ein Gefecht gegeben, bei dem der als Terrorist diffamierte Yıldırım „neutralisiert“ worden sei, wollte in dem Ort niemand bestätigen, konnte es aber auch nicht ausschließen. Zwar habe es einen langen und heftigen Beschuss gegeben. Ob es sich dabei um Gefechte oder nur einseitiges Feuer handelte, habe man nicht sehen können.

Einschussloch in der Hausfassade (c) MA

Erst um etwa 2.20 Uhr in der Nacht endete die Belagerung von Nenyas. Danach stürmte das Militär das Haus von Mehmet Yıldırım. Dessen 15-jähriger Sohn schilderte, durch die Schussgeräusche aus dem Schlaf gerissen worden zu sein. Er, seine fünf, acht und 13 Jahre alten Geschwister sowie die Mutter seien allein im Haus gewesen: „Ich machte das Licht an und wollte auf die Veranda, um nachzusehen, was passiert war. Aber kaum hatte ich meinen Kopf rausgestreckt, wurde bereits wieder geschossen. Ich konnte noch beobachten, dass unsere Nachbarn ebenfalls versuchten, nach draußen zu gehen. Kurz darauf standen die Soldaten schon im Haus. Sie trennten mich von meiner Mutter und brachten uns auf zwei verschiedene Balkone, wo sie uns durchsuchten. Anschließend führten sie mich nach draußen. Sie wollten den unbewohnten Anbau durchsuchen, ich sollte deshalb vorgehen. Als die Durchsuchung zu Ende war, wurde ich an den Platz gezerrt, wo die Panzerfahrzeuge standen. Ich musste meinen Kopf senken und die Augen geschlossen halten.“

Die Bewohnenden von Nenyas gaben an, dass die betroffene Familie bereits seit Jahren von Polizei und Armee schikaniert werde und ihr Haus in der Vergangenheit häufig von staatlichen Kräften gestürmt wurde. Scharf zurück wiesen sie die Behauptung, der getötete Yıldırım sei Mitglied der PKK gewesen. „Er war ein gewöhnlicher Bewohner unserer Siedlung und Vater von vier Kindern. Das, was die Regierung über ihn behauptet, ist nicht wahr. Mehmet war Zivilist und kein Kämpfer. Wir glauben, dass er zunächst verletzt wurde, bevor man ihn hinrichtete. Als die Ausgangssperre aufgehoben wurde, haben wir uns draußen umgesehen. Was wir vorfanden, war eine Blutlache und eine mit Blut besudelte Wand. Mehmet, von dem wir zu dem Zeitpunkt nicht wussten, dass er es ist, haben wir nicht gesehen“, so der Zeuge von MA. Der Leichnam Yıldırıms war da bereits von der Armee verschleppt und in das rechtsmedizinische Institut in der Provinzhauptstadt Amed gebracht worden.

Warten auf die Freigabe des Leichnams (c) MA

Dass Mehmet Yıldırım getötet wurde, erfuhr seine Familie erst durch einen Eintrag des türkischen Innenministers im Kurznachrichtendienst X. In martialischer Manier widmete Yerlikaya die mutmaßliche Hinrichtung in eine „Außergefechtsetzung“ eines vorgeblichen Terroristen um, der für den Tod von acht Sicherheitskräften und zwölf Zivilpersonen bei angeblichen Anschlägen in Amed zwischen den Jahren 2018 und 2022 mitverantwortlich sein soll. Wie es sein kann, dass ein vorgeblich als Terrorist Gesuchter wie Yıldırım, der seinen Wohnsitz offiziell in Nenyas hatte, somit auch den sogenannten Sicherheitsbehörden bekannt war und immer wieder Opfer der Willkür und Schikane staatlicher Seiten wurde, erst jetzt lokalisiert werden konnte – bei einer Operation, die vom Provinzkommando der Armee in Amed, Gendarmerie, Militärgeheimdienst und Nachrichtendienst koordiniert worden sein soll – dazu äußerte sich der Minister nicht. Opferbeschuldigung zur Verharmlosung und Legitimierung von Kriegsverbrechen gehören im schmutzigen Krieg des türkischen Staates in Kurdistan seit jeher zur Regel.

Politische Parteien wie die DBP und DEM sowie zivilgesellschaftliche Organisationen haben sich eingeschaltet und wollen eine eigene Untersuchung des Vorfalls durchführen lassen. Derweil ist der Leichnam Mehmet Yıldırıms am späten Abend nach erfolgter Obduktion von der Rechtsmedizin in Amed freigegeben worden. Er wurde mit den Worten „Şehîd namirin“ in Empfang genommen und in seinem Dorf beerdigt.