Südkurdistan: „An der Krise sind die Regierungen schuld“

Der Ökonom Dr. Ezat Sabir Esmaeel sieht die fehlgeleitete Politik der Autonomieregierung als Hauptgrund für die Krise im Land. Die Ölexporte in die Türkei identifiziert er als Minusgeschäft und direkte Ursache für die Aussetzung von Beamtengehältern.

In den letzten Jahren kam es sowohl im Irak als auch in der südkurdischen Autonomieregion immer wieder zu Protesten gegen die Politik der Regierungen in Bagdad und Hewlêr, bei deren Niederschlagung unzählige Menschen ihr Leben verloren. Der Ökonom Dr. Ezat Sabir Esmaeel, der für die Patriotische Union Kurdistans (YNK) im Parlament saß und als Leiter des Finanzausschusses und Mitglied des Energieausschusses fungierte, sieht den Hauptgrund der Proteste in der seit 2015 andauernden Wirtschaftskrise im Land in der wirtschaftspolitischen Unfähigkeit der Autonomieregierung.

Berechnungen basierten auf einem konstanten Ölpreis

Zwischen der kurdischen Autonomieregierung und der Türkei wurde unter Nichtbeachtung der irakischen Verfassung ein Vertrag mit 50-jähriger Laufzeit über Ölexporte geschlossen. Verfassungsgemäß wäre nur der Export von Öl aus Anlagen, die nach 2005 erbaut wurden. Laut Esmaeel errechnete sich die Regierung in Hewlêr höhere Einnahmen aus dem Vertrag, als sie durch eine Kooperation mit der irakischen Regierung möglich wären: „Das Öl aus den nach 2005 geschaffenen Förderanlagen reicht nicht für die Exporte in die Türkei. Nach der Schließung des Vertrags wurde mit den Exporten begonnen. Im Gegenzug entschied die irakische Regierung, Hewlêr das Budget zu streichen. Zu dem Zeitpunkt machte die kurdische Autonomoeregierung ihre Planung entsprechend eines Rohölpreises von 80 bis 90 Dollar pro Barrel. Gemäß dieser Rechnung könnten durch den Export sehr viel höhere Einnahmen erziehlt werden, als bei einer Abgabe des Öls an Bagdad. Im Jahr 2015 fiel der Weltmarktpreis für ein Barrel Rohöl auf 27 Dollar. In dieser Situation fiel das Einkommen durch Erdölexporte unter den Betrag des eigentlich von der Regierung in Bagdad zu zahlenden Budgets. Weil der Rohölpreis bis ins Jahr 2020 die 90-Dollar-Marke nicht mehr erreichte, sind wir jetzt mit der Einbehaltung von Beamtengehältern und Versorgungsproblemen konfrontiert“, erklärt der Experte.

Die Rechnung zahlt die Bevölkerung

Laut Esmaeel kommen zudem nur 30 Prozent der Erdöleinnahmen tatsächlich bei öffentlichen Einrichtungen an. 70 Prozent gingen in die Türkei, an Privatunternehmen aus dem Inland und in England und Norwegen sowie in die Kassen der türkischen Halkbank und der britischen HSBC. „Die verbleibenden 30 Prozent reichen nicht für Gehälter und öffentliche Versorgung. Deshalb ist die Regierung dazu übergegangen, die Löhne nur noch von Zeit zu Zeit auszuzahlen. In der Regel wird monatelang gar nichts ausgezahlt, zwischendurch erhält die Beamtenschaft ein bis zwei Monate lang ihre Gehälter. Im Jahr 2020 hat die Autonomieregierung ihren Beamten nur in fünf von zwölf Monaten ihr Gehalt ausgezahlt. Und diese fünf ausgezahlten Monatsgehälter wurden teilweise so weit gesenkt, dass die aufsummierte Differenz einem weiteren Monatslohn entspricht. Es wurde also effektiv acht Monate lang kein Gehalt gezahlt.“

Dr. Ezat Sabir Esmaeel (3.v.l.) 2017 im EU-Parlament

Offizielle Zahlen sind übertrieben

Die vom südkurdischen Premierminister Masrûr Barzanî immer wieder genannte Summe von 27 Milliarden Dollar Staatsschulden hält Dr. Ezat Sabir Esmaeel für übertrieben. Diese Schulden könnten höchstens zehn Milliarden Dollar betragen. Ein wichtiger Teil der Schulden würde in dieser Rechnung aber trotzdem ignoriert: „Hewlêr ist um acht Monatsgehälter aus 2020 verschuldet. Auch 2019 gab es Lohnkürzungen und nicht ausgezahlte Löhne. Für 2018 wird den Staatsangestellten ebenfalls noch Gehalt geschuldet. In keinem der letzten fünf Jahre wurden die Gehälter komplett ausgezahlt. Das sind wirkliche Schulden. Die Regierung behauptet, sie sei in der Türkei verschuldet und bei den Ölunternehmen, mit denen sie arbeitet. Tatsächlich ist sie verschuldet, weil sie das Geld der Bevölkerung benutzt.“

Gaskauf zum doppelten Marktpreis

Die Fehlplanung erstreckt sich jedoch auch auf andere Gebiete als den Ölexport, wie Esmaeel anhand einem Beispiel aus der Stromproduktion veranschaulicht: „Die Autonomieregierung kauft das Gas zur Stromproduktion für einen Dollar pro Liter anstatt des Marktpreises von 50 Cent. Von 2010 bis 2016 wurden 20 Milliarden Dollar für den Kauf von Gas im Wert von acht Milliarden Dollar ausgegeben. Somit hat die Regierung insgesamt zwölf Milliarden Dollar mehr gezahlt.” Planlosigkeit, und fehlende politische Programme hätten zu dieser Verschuldung geführt, ergänzt der Ökonom. „Aber ich muss auch noch einmal wiederholen: Der offizielle Betrag der Verschuldung stimmt nicht.“

Am besten wäre eine Einigung mit Bagdad

„Wenn wir uns nicht einigen können, schaden wir uns gegenseitig”, führt Esmaeel weiter aus. Aber für Başûr [Südkurdistan] sei der Schaden größer. „Würden wir Bagdad täglich 250.000 Barrel Öl liefern, würden wir ein Budget von zehn Trillionen Dinar erhalten. Damit könnten alle Gehälter ausgezahlt werden. Verkauft die Regierung das Öl auf eigene Faust, nimmt sie damit nur fünf Trillionen Dinar ein. Hier gibt es einen offensichtlichen Schaden von 50 Prozent der möglichen Einnahmen. Zudem blieben bei einer Aushändigung der 250.000 Barrel noch mehr als 200.000 Barrel, die selbst verkauft werden könnten. Damit könnten einige Projekte durchgeführt und die Schulden bei den Konzernen und für die Pipelines bezahlt werden.”

Streit über Zolleinnahmen

Ein weiterer Streitpunkt seien die Zolleinnahmen an den Grenzübergängen. Laut Esmaeel ist die Gesetzeslage hier jedoch eindeutig: „Laut Verfassung sollen die Einnahmen der Grenzübergänge an die Zentralregierung geschickt werden. Diese schickt dann einen Teil dieser Einnahmen in die Regionen. Die Regierung von Başûr hält sich aber nicht daran. Sie schickt diese Einnahmen nicht nach Bagdad.“

Viele Möglichkeiten zur Überwindung der Krise

Die Ursachen der Krise in Südkurdistan und im Irak sieht Dr. Ezat Sabir Esmaeel in verschiedensten Formen des Regierungsversagens: „Es gibt einen Reichtum an natürlichen Ressourcen, vor allem Öl. Mit einem richtigen Plan und Projekten und dem richtigen Verständnis könnten diese erschlossen, verkauft und zum Nutzen der Bevölkerung eingesetzt werden. Dann würde sich zeigen, was für ein reiches Land der Irak ist. Die Probleme im Irak zu lösen, ist eigentlich einfach. Der Irak ist Gründungsmitglied der OPEC und exportiert täglich drei Millionen Barrel Erdöl. Auch was die Landwirtschaft angeht, ist der Irak ein reiches Land. Zudem gibt es Potential für Tourismus. Es bieten sich also viele Möglichkeiten, um die Krise zu überwinden. Eine aufrichtige Regierung wäre ausreichend. Gäbe es eine Regierung, die die Interessen der Bevölkerung in den Vordergrund stellt, wäre es sehr einfach, diese Probleme zu lösen.“