Roboskî: Eine nicht verheilende Wunde

Das Massaker von Roboskî am 28. Dezember 2011 hat tiefe Wunden hinterlassen und die Angehörigen der Opfer für ihr Leben geprägt. Cansel und Muammer Encü berichten über das Leben nach dem tödlichen Luftangriff.

Am 28. Dezember 2011 griffen türkische Kampfbomber eine Gruppe Zivilisten in der Nähe des Dorfes Roboskî (Ortasu) im nordkurdischen Qilaban (Uludere, Provinz Şirnex/Şırnak) an. Dabei wurden 34 junge Menschen aus dem Dorf Roboskî getötet. Dieses Massaker rief unter Kurd*innen weltweit größte Entrüstung hervor. Bei Protestaktionen in der Türkei und Nordkurdistan wurden viele Menschen festgenommen und inhaftiert. Diejenigen, die am grausamsten mit den Folgen des Massakers konfrontiert wurden, sind jedoch die Menschen in Roboskî. Die Angehörigen der Ermordeten leiden unter schweren Traumata. Die Wunden, die das Massaker geschlagen hat, sind bei ihnen auch nach neun Jahren nicht annähernd verheilt. Der Moment, in dem Familienmitglieder die zerfetzten Leiber ihrer Angehörigen sahen, stellen einen Bruch im Leben der Menschen des Dorfes dar. Die Kinder von 2011 sind heute in der Blüte ihrer Jugend. Zwei von ihnen sind die Geschwister Cansel und Muammer Encü. Die Geschwister, die bereits ihre große Schwester 2003 bei einem Unfall verloren hatten, erlitten 2011 einen weiteren gewaltigen Schlag, als auch ihr Bruder aus dem Leben gerissen wurde.

Das Massaker hat ihr gesamtes Leben beeinflusst

Auf die Frage, ob sie ANF ein Interview geben wollen, antworten sie: „Wenn es auch nur ein bisschen zum Kampf für Gerechtigkeit beiträgt, warum nicht?“ Sowohl Cansel als auch Muammer verloren bei dem Luftangriff nicht nur ihren älteren Bruder, sondern auch Freunde, Cousins und nahe Verwandte. Sie betonen immer wieder, wie das Gewicht des Massakers für sie bestimmend in jedem Lebensbereich wurde. Die Encü-Geschwister waren vorher zum Beispiel sehr gut in der Schule, danach fielen ihre Leistungen massiv ab. „Wenn ich in den Unterricht ging, hatte ich Schwierigkeiten, mich zu konzentrieren, weil ich die ganze Zeit an meinen Bruder dachte“, sagte Muammer. Er betont, er habe die ganze Zeit am Gymnasium dieses Gefühl nicht überwinden können.

Ich war damals ein Kind“

Muammer spielte am Abend des Massakers zu Hause Videospiele. Als er den Lärm der Bomber und der Explosionen hörte, bekam er große Angst. In jedem Satz betont er, dass er „ein Kind“ gewesen sei. Es ist, als versuche er zu erklären, dass er jetzt erwachsen sei und die Angst der Nacht des 28. Dezember 2011 hinter sich gelassen habe.

Gleichzeitig spricht er von schweren psychischen Problemen, unter denen er leide. Er sagt nochmals: „Ich war damals ein Kind.“ Dann fügt an: „In dieser Nacht konnte ich nicht anderes tun, als zu beten, dass meinem Bruder nichts passiert ist."

In dem Moment, als seine Mutter aus dem Grenzgebiet, in dem der Luftangriff stattgefunden hatte, zurückgekehrt war und ihn fest in ihre Arme schloss, war Muammer klar geworden, dass sein Bruder tot war. Von diesem Moment an begann für ihn der zweite Teil seines Lebens. Zum Schmerz über den jahrelang zurückliegenden Tod seiner Schwester kam nun der seines großen Bruders hinzu. Muammer wurde im Alter von zwölf Jahren, wie alle anderen Kinder in Roboskî auch, zum Zeugen eines Massenmordes.

Ich dachte immer an meinen Bruder“

Muammer sagt, dass er und sein Bruder sich sehr liebten und insbesondere seine Schulzeit negativ von dem Verlust des Bruders beeinflusst worden sei: „Ich war sehr schlecht in der der Schule, weil mir mein Bruder nie aus dem Kopf ging. Ich schloss das Gymnasium gerade so ab. Danach hatte ich keine Kraft mehr weiterzumachen.“ Muammer, der zuvor von der Universität träumte, fiel nach dem Massaker durch seine Prüfungen. Für ihn ist sein Bruder nicht tot. Er fragt sich immer wieder: „Wie alt wäre er jetzt wohl?“, „Wäre er klein oder groß?“ oder „Hätte er schon geheiratet und Kinder?“ Je älter er wurde, desto brennender wurde für ihn der Schmerz über den Tod seines Bruders. Er betont, er werde, was auch immer geschehen möge, den Kampf für Gerechtigkeit niemals aufgeben und schließlich dafür sorgen, dass die Mörder vor Gericht gestellt werden.

Ich werde als Anwältin Rechenschaft verlangen“

Cansel war zum Zeitpunkt des Massakers erst neun Jahre alt. Zwei Monate nach dem Massenmord wollte sie nicht mehr in die Schule gehen. Ihr ermordeter Bruder hatte sie zuvor immer in die Schule gebracht, und die Erinnerung war zu schmerzlich. Wenn sie sagt: „Ich begann die Schule zu hassen“, dann kehrt der Schmerz dieser Tage in ihre Augen zurück. Sie fügt an: „Immer, wenn ich an diese Nacht dachte, dann wuchsen in mir die Gefühle von Hass und Wut. Denn damals konnte ich nichts unternehmen.“

Nach einer Weile entschied sich Cansel, Anwältin zu werden. Als Anwältin im Roboskî-Verfahren wollte sie die Täter zu Verantwortung ziehen und das Leid ihrer Angehörigen zumindest bisschen lindern. Aber andererseits dachte sie, dass sie als Kurdin nach dem Studium genau in den gleichen Teufelskreis geraten würde. Nach der Entscheidung des Verfassungsgerichts, das Verfahren wegen Roboskî abzuweisen, setzte Cansel ihre Ausbildung fort und der Plan, Juristin zu werden, kam für sie wieder auf die Tagesordnung.

Die Täter müssen bestraft werden“

Jedes Jahr am 27. Dezember denkt Cansel an die Momente vor dem Tod ihres Bruders. Sie denkt jedes Jahr erneut daran, dass am folgenden Tag die Bomben fallen. Sie sagt: „Jeden 28. Dezember habe ich das Gefühl, diese Nacht erneut zu erleben. Deswegen ist es mein einziger Wunsch, dass dieses Verfahren fortgesetzt wird und die Täter bestraft werden.“

Alle jungen Menschen in Roboskî tragen die gleichen Spuren des Leids in sich wie Cansel und Muammer. Sie kämpfen zusammen mit ihren Familien um Gerechtigkeit. Sie haben sich stark politisiert und leben in der Hoffnung, dass der türkische Staat eines Tages für seine Massaker zur Rechenschaft gezogen wird.