Wenn Sprachbücher „Terrorpropaganda“ betreiben
Über 550 beschlagnahmte Bücher und Magazine, diverse eingezogene Datenspeicher sowie mindestens 18 Festnahmen: Das ist die Bilanz der Durchsuchungen beim Forschungsverein für Sprachen und Kultur Mesopotamiens (MED-DER) und der Buchhandlung Payîz Pirtûk in Amed (tr. Diyarbakır). Rund fünf Stunden wurden die Räumlichkeiten beider Einrichtungen seit 5 Uhr in der Früh von Einheiten der sogenannten Antiterrorpolizei akribisch durchsucht und legale Bücher und Zeitschriften „sichergestellt“. Der Grund: Die Oberstaatsanwaltschaft Diyarbakır unterstellt den Werken eine „inhaltliche Nähe zur Ideologie der Terrororganisation PKK“ und „Terrorpropaganda“, ohne dabei konkret zu werden.
Laut MED-DER und Payîz Pirtûk handele es sich dabei um „völlig legale Bücher, Zeitschriften und Zeitungen, die man ganz normal in der Türkei erwerben kann“, etwa Lernbücher für die kurdische Sprache. Die Macher:innen und Herausgeber:innen sowie Mitarbeitende beider Einrichtungen werden ebenfalls der „Terrorpropaganda“ beschuldigt. Einige von ihnen befinden sich unter den Festgenommenen, darunter auch Lehrkräfte. Etwa zeitgleich zu den Razzien bei den Organisationen wurden auch die Wohnungen von Belegschaftsmitgliedern gestürmt.
Unter den beschlagnahmten Materialien befinden sich neben Ausgaben der Zeitungen Yeni Yaşam und Xwebûn sowie der Magazine Jineolojî und Demokratik Modernite auch Briefe von politischen Gefangenen © MA
Vernichtungsfeldzug gegen Sprache und Kultur
Der Überfall auf MED-DER, ein Verein, der seit Jahren Unterricht in den kurdischen Varianten Kurmancî und Kirmanckî anbietet, und bei Payîz Pirtûk war abzusehen. Schon seit Monaten fegt durch die Reihen der kurdischen Gesellschaft eine staatliche „Säuberungsaktion“; dutzende Menschen wurden als „Terroristen“ verhaftet, weil sie auf Kurdisch gesungen oder zu kurdischer Musik getanzt haben. Es galt als Frage der Zeit, wann der diskriminierende und rassistische Repressionsapparat Kultureinrichtungen in den Fokus seines neuerlichen Vernichtungsfeldzugs durch Kurdistan setzt. Für keine Überraschung sorgte dabei die Erkenntnis, dass die Ermittlungsakten einer Geheimhaltungsklausel unterliegen. Dadurch haben Rechtsbeistände keine Einsicht in die Akten. Darüber hinaus ist eine 24-stündige Kontaktsperre über die Festgenommenen verhängt worden, innerhalb derer sie keine Möglichkeit auf eine juristische Vertretung haben. Bei solchen Maßnahmen handelt es sich um eine gängige Verzögerungstaktik der türkischen Justiz, um Verdächtigungen zu fabrizieren. Die Methode wird standardmäßig für Fälle herangezogen, bei denen es um „Terrorismus“ geht.
Nachdem die Polizei bei MED-DER wieder abzog, hinterlegte sie den Schlüssel des neuen Schlosses - das vorherige wurde aufgebrochen - beim Gemeindevorsteher. Anwaltliche Vertretung während der Durchsuchungen wurde nicht zugelassen © MA
Verfahren aufgrund Aussagen eines Kronzeugen der Staatsanwaltschaft
Der Juristenvereinigung ÖHD gelang es allerdings in Erfahrung zu bringen, dass die staatsanwaltlichen Akten gegen MED-DER und Payîz Pirtûk im Jahr 2022 angelegt worden sein sollen – auf Grundlage von Aussagen von Ümit Akbıyık. Der frühere HDP-Aktivist hat in den letzten Jahren mehr als 800 Oppositionelle belastet, um in den Genuss der Straffreiheit zu kommen. Obwohl sich wiederholt in Gerichtsverfahren herausgestellt hat, dass seine Aussagen erdichtet sind und aus der Feder der Antiterrorpolizei stammen, wurden bereits zahlreiche Menschen aus der kurdischen Politik, Zivilgesellschaft und Presse unter Heranziehung der türkischen Antiterrorgesetzgebung verurteilt. Eine dieser Personen ist Halise Aksoy, die sich in der Friedensinitiative „Mütter mit weißen Kopftüchern“ engagiert. Bekanntheit über die Grenzen Kurdistans hinaus erlangte sie im Frühjahr 2020, als ihr die sterblichen Überreste ihres Sohnes, dem Guerillakämpfer Agit Ipek (Nom de Guerre: Kemal Berxwedan), per Postzustellung in einer Kiste ausgehändigt worden waren.
Ko-Vorsitzende von MED-DER festgenommen
Bei den Festgenommenen handelt es sich derweil um die Ko-Vorsitzenden von MED-DER, Mehmet Remzi Azizoğlu und Şükran Yakut, den „Payîz Pirtûk“-Inhaber Cihat Güneyli sowie Ramazan Holat, Rıfat Ronî, Dilan Güvenç, Nazan Çelik, Rezan Aktulum, Beritan Gurbet Orak, Berivan Duman, Ayhan Karatekin, Mehmet Salih Öngün, İlyas Gün, Hebun Yağmur, Mine Karakaş, Fatma İgin, Rabia Karayıl und Belkısa Süleymanoğlu Bitkin. Letztere ist Mitglied im Vorstand des in Izmir im Südwesten der Türkei ansässigen Kunstvereins „JÎN ART Huner“. Der ÖHD befürchtet, dass die Zahl der Festnahmen weiter steigen könnte.