Muss sich die Türkei an EGMR-Urteile halten?

Vor knapp einem Monat hat der europäische Menschenrechtsgerichtshof die sofortige Freilassung des kurdischen Politikers Selahattin Demirtaş angeordnet. Die HDP fragt die türkische Regierung nach der Verbindlichkeit dieses Urteils.

56 Abgeordnete der Demokratischen Partei der Völker (HDP) haben eine Anfrage zur Freilassung des kurdischen Politikers Selahattin Demirtaş an die türkische Regierung gestellt. Die Anfrage besteht aus einem einzigen Satz: „Muss sich die Republik Türkei nicht an das EGMR-Urteil halten?“

Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) hat im Dezember die sofortige Freilassung des seit über vier Jahren inhaftierten ehemaligen HDP-Vorsitzenden angeordnet. Die Anfrage der HDP-Abgeordneten zur Verbindlichkeit dieses Urteils richtet sich an den Vizepräsidenten Fuat Oktay, den Justizminister Abdulhamit Gül und den Außenminister Mevlüt Çavuşoğlu. In der Anfrage wird darauf hingewiesen, dass seit dem Urteil der Großen Kammer des Menschenrechtsgerichtshofs bereits 29 Tage vergangen und noch keine Anstalten für eine Freilassung unternommen worden sind. Die Türkei ist als Mitglied des Europarats zur Umsetzung von EGMR-Urteilen verpflichtet.

Seit über vier Jahren als politische Geisel im Gefängnis

Selahattin Demirtaş ist seit über vier Jahren im Gefängnis. Der damalige HDP-Vorsitzende wurde am 4. November 2016 zeitgleich mit zahlreichen weiteren kurdischen und linken Politiker*innen festgenommen und anschließend inhaftiert. 2019 wurden die Haftbefehle gegen Demirtaş und die Ko-Vorsitzende Figen Yüksekdağ überraschend aufgehoben. Auf Betreiben des türkischen Staatspräsidenten Recep Tayyip Erdoğan wurde jedoch ein erneuter Haftbefehl erwirkt. Erdoğan erklärte dazu: „Wir können sie nicht freilassen. Die haben das Parlament infiltriert. Unsere Nation vergisst diejenigen nicht, die die Menschen auf die Straßen gerufen und unsere Söhne ermordet haben. Wir werden sie bis zum Letzten verfolgen und niemals ablassen.“

Im Juni 2020 hatte das türkische Verfassungsgericht einer Klage von Demirtaş wegen der Verletzung seiner persönlichen Freiheit durch die Untersuchungshaft stattgegeben. Das Gericht gab Demirtaş Recht und urteilte, dass die Untersuchungshaftdauer den „angemessenen Zeitraum“ überschritten habe und damit Artikel 19 der türkischen Verfassung verletze. Das Justizministerium müsse ihm zudem 50.000 TL Entschädigung zahlen. Eine Entlassung aus dem Gefängnis blieb trotz des juristischen Erfolgs aus, da bereits eine neue Haftentscheidung gegen den kurdischen Politiker vorlag.

Der EGMR in Straßburg hatte bereits im November 2018 entschieden, dass die Untersuchungshaft von Demirtaş unrechtmäßig ist. Auch dieses Urteil wurde durch eine Ad-hoc-Verurteilung in einem der zahllosen Strafverfahren gegen den kurdischen Politiker unterlaufen.

Am 22. Dezember 2020 entschied der EGMR im Demirtaş-Verfahren, dass die Türkei als der beklagte Staat „alle notwendigen Maßnahmen ergreifen muss, um die sofortige Freilassung des Antragstellers zu gewährleisten“. Laut Urteil muss Ankara dem 47-Jährigen zudem insgesamt 60.400 Euro für Vermögensschäden, immaterielle Schäden sowie Ausgleich für Kosten und Ausgaben zahlen.

Der Rechtsbeistand von Demirtaş beantragte daraufhin erneut die Aufhebung des Haftbefehls. Das zuständige Gericht in Ankara lehnte den Antrag mit der Begründung ab, dass die türkische Übersetzung des EGMR-Urteils noch nicht vorliegt. Die Übersetzung ist inzwischen erfolgt, trotzdem wird Demirtaş weiter im Hochsicherheitsgefängnis Edirne in der Westtürkei festgehalten.