„Eine Invasion bedeutet ein Massaker“

Seit 2017 greift der türkische Staat Südkurdistan an. Kamaran Osman von den Community Peacemaker Teams warnt wegen einer bevorstehenden Invasion in der Region Gare vor einem drohenden Massaker.

Community Peacemaker Teams

Der türkische Staat bereitet eine neue Großinvasion in Südkurdistan vor. Es werden massive Truppenkontingente in den Grenzprovinzen zusammengezogen. Insbesondere Natur und Zivilbevölkerung der Region sind von den türkischen Angriffen bedroht. Offenbar soll sich die nächste Invasion vor allem auf die von der Guerilla verteidigte Schlüsselregion Gare beziehen. Die Besetzung Gares würde eine wichtige Etappe für einen Einfall in ganz Südkurdistan darstellen. 

Kamaran Osman von der Friedensinitiative Community Peacemaker Teams (CPT - Iraqi Kurdistan) hat sich gegenüber der Tageszeitung Yeni Özgür Politika zu den Entwicklungen in der Region geäußert. Die CPT wurden 2006 gegründet, um die militärischen Bewegungen der Türkei und Irans zu beobachten. Osman erklärte zu den Entwicklungen der letzten Jahre: „Die Türkei führt jedes Jahr neue oder ergänzende Operationen durch. Seit Dezember 2017 setzt sie ihre Angriffe am Boden und aus der Luft pausenlos fort. In diesem Zeitraum hat die Türkei 64 Militärstützpunkte in der Region errichtet. Sie hat 86 Prozent der Grenze zwischen türkischem Staatsgebiet und der Kurdistan-Region des Irak besetzt und umfangreiche Militärstraßennetze gebaut, die besetzten Gebiete abgeholzt und die kurdische Bevölkerung vertrieben.“

55 Dörfer entvölkert, 39 akut bedroht

Zur bevorstehenden Invasion in Gare sagte Osman: „Das gleichnamige Massiv Gare, ein 2.251 Meter hoher Berg, erstreckt sich über ein Gebiet von 38,9 Quadratkilometern und liegt im Zentrum von vier Bezirken. Die Besetzung dieses Berges würde die Unterbrechung der Verbindung zwischen Mergasor, Akre, Amêdî und Zaxo zur Folge haben. An den Ausläufern und Hängen des Berges gibt es 94 Dörfer. Seit 1996 wurden 55 dieser Dörfer durch türkische Bombardierungen vollständig entvölkert. Es sind nur noch 39 Siedlungen übrig, die ebenfalls von Vertreibung bedroht sind. Im Falle eines Angriffs auf den Berg Gare würden 190 Familien dauerhaft aus ihren Dörfern vertrieben werden. Diese Region ist auch wirtschaftlich wichtig. Die humanitären und wirtschaftlichen Verluste durch die Operationen wären massiv.“

Kamaran Osman 2023 bei einer Konferenz in Silêmanî (c) privat

„Niemand außer uns beobachtet die Lage“

Osman kritisierte, dass die Südkurdistan-Sektion der Community Peacemaker Teams vollkommen alleine mit der Beobachtung der Entwicklungen sei, und wies dabei insbesondere auf die Regierungen der autonomen KRI und des Irak hin, die sich nicht um die Angriffe scherten. Er erklärte: „Zurzeit gibt es in Kurdistan keine andere Organisation, die die Angriffe beobachtet und versucht, sie bekannt zu machen. Es gibt Politiker und Journalisten, die sich individuell mit den Angriffen oder ihren Folgen befassen. Institutionell verfolgen und beobachten nur wir diese Vorgänge.“

358 Angriffe in vier Monaten

Laut einem Bericht der CPT hat die Türkei zwischen dem 1. Januar und dem 1. April mindestens 358 Angriffe auf die Region durchgeführt, der Iran 15. Bei diesen Angriffen wurden insgesamt 22 Menschen, darunter 14 Zivilpersonen, getötet und sechs weitere verletzt. Kamaran Osman äußerte sich zu den Unterschieden bei den Angriffen der beiden Staaten wie folgt: „Die Angriffe des türkischen Staates werden hauptsächlich mit Kampfjets, Drohnen, Artillerie und Bomben durchführt. Der Iran hingegen setzt Artillerie über die Grenze hinweg und Kamikaze-Drohnen ein. Er führt keine militärischen Operationen am Boden durch. Die Türkei hingegen greift nicht nur permanent aus der Luft an, sondern führt auch Bodenoperationen durch.“

Unbekannte Zahl türkischer Soldaten

Kamaran Osman sagte, die tatsächliche Zahl der türkischen Soldaten in Südkurdistan sei unbekannt. „Einige Medien und Organisationen geben Schätzungen an, gesicherte Daten liegen aber selbst uns nicht vor. Der größte Militärstützpunkt der Türkei in Südkurdistan ist Girê Barûx. Diese Basis wurde 1997 eingerichtet und befindet sich im Bezirk Kanî Masî.“ Die meisten türkischen Militärs sollen hier im Einsatz sein.

„Wenn Gare angegriffen wird, gibt es ein Massaker“

Osman unterstrich, dass ein Angriff auf Gare nicht nur einen Verstoß gegen das Völkerrecht darstellen werde, sondern die Menschen in der Region sehr schwer treffen würde. Er appellierte in diesem Sinne auch an die südkurdische und die irakische Regierung: „In der Verfassung steht, dass der Irak verpflichtet ist, die Souveränität des irakischen Territoriums zu schützen, und die Regierung der Region Kurdistan sollte in dieser Hinsicht Unterstützung leisten. Das ist obligatorisch. Es wird ein großes Massaker in Gare geben. Mit dieser Operation besteht die Gefahr der Vertreibung von 190 dort lebenden Familien.“

Der CPT-Vertreter warnte: „Die Region wird auch wirtschaftlich in Mitleidenschaft gezogen. Die Natur und die Kultur der Region werden ebenfalls Schaden erleiden, da das türkische Militär sich dort, wo es aufmarschiert, festsetzt. Damit wird auch der Weg für eine Assimilierung geebnet. Wir appellieren an die Regierungen des Irak und Südkurdistans, zu beachten, dass durch die Operation nicht nur die PKK, sondern auch die Menschen in der Region und im Irak geschädigt werden.“

Osman wandte sich auch an internationale Organisationen und sagte: „Sie sollten erkennen, dass das von ihnen selbst geschaffene Recht hier gebrochen wird, und Maßnahmen ergreifen. In jüngster Vergangenheit haben bei den Angriffen auch Zivilisten ihr Leben verloren. Die Länder, die Waffenlieferungsverträge mit der Türkei haben und Kriegsgerät verkaufen, sollten diese Verträge kündigen und die Waffenverkäufe einstellen. Mit diesen Waffen werden Zivilisten angegriffen und getötet.“

Titelbild: Gare-Gebirge (c) Gulan Akrawi