Ein Paradies mitten im Krieg: Xakûrkê

Um die Angriffe des türkischen Militärs auf das südkurdische Gebiet Bradost und den Widerstand der Guerilla vor Ort zu verfolgen, begeben wir uns nach Xakûrkê.

Die ersten Dorfbewohner, denen wir in Bradost begegnen, fragen wir zur aktuellen Situation aus. Sofort wird spürbar, unter welchem Druck sie stehen. Sie haben Angst. Sobald sie begreifen, dass wir Journalisten sind, wollen sie gar nicht mehr mit uns sprechen. Erst als wir die Kamera ausschalten, vertrauen sie uns halb klagend, halb vorwurfsvoll ihre Probleme an. Die Älteren unter ihnen haben bereits viele Kriege in der Region miterlebt. Sie sagen, dass die Anwesenheit der Guerilla nur ein Vorwand und das eigentliche Ziel die Besatzung des als Widerstandshochburg bekannten Gebietes Bradost sei. Zwar beschweren sie sich auch über die Guerilla und hinterfragen, warum die PKK keine aktivere Politik in Südkurdistan betreibt, aber ihre Wut gilt vor allem der südkurdischen Regionalregierung.

Das Gebiet Bradost erstreckt sich von Süd- nach Ostkurdistan und ist nach den Stammeseinheiten benannt, die bereits in der Geschichte Widerstand gegen Besatzungskräfte geleistet haben. Die Widerstandstradition geht bis auf den kurdischen Aufstand um die Dimdim-Festung im 17. Jahrhundert zurück. Sowohl gegen die irakische als auch gegen die iranische Herrschaft ist hier gekämpft worden, ebenso gegen die Unterdrückung durch die herrschenden kurdischen Stämme. Mit dem Saddam-Regime und hinterher der kurdischen Regionalregierung wurde der Stamm der Bradost zunehmend marginalisiert und in ein enges Gebiet gedrängt. Es wird allgemein angenommen, dass die aktuellen Angriffe dazu dienen sollen, die widerständige Bevölkerung endgültig auseinanderzutreiben. Wir verweisen auf die Peschmerga-Kontrollpunkte in den besetzten Gebieten und fragen nach deren Haltung. Die Dorfbewohner meinen, einige Kräfte aus dem Süden würden nicht nur keinen Protest gegen die Angriffe zeigen, sondern die türkische Armee sogar heimlich unterstützen. Als wir nachfragen, wen sie damit meinen, reagieren sie wieder verlegen und ängstlich. Wir verstehen natürlich, wer gemeint ist. Sie erzählen von Anwerbeversuchen für den Kampf gegen die PKK bei den Dorfbewohnern. Außerdem beschweren sie sich darüber, ihre Herden nicht auf die Hochweiden führen zu können. In fast allen Dörfern und Häusern hören wir die gleichen Vorwürfe. Dann machen wir uns ins Guerillagebiet auf.

Unser Kurier Çekdar ist ein Guerillakämpfer in mittleren Jahren. Er redet wenig, sein ergrautes Haar und sein Bart geben ihm einen reifen Anschein. In unserer Gruppe sind außerdem jemand aus dem Gesundheitsbereich und ein selbstsicherer Guerillakommandant. Mit meinem Journalisten-Kollegen Mahir Yilmazkaya und mir sind wir insgesamt fünf. Als wir auf die erste Guerillagruppe stoßen, verfliegt die düstere Atmosphäre, die wir in den Dörfern erlebt haben. Auch die Guerillakämpfer unter uns kommen zum ersten Mal nach Xakûrkê und kennen sich hier nicht gut aus. Sie sind mindestens so neugierig wie wir. Das Gebiet kennt nur Çekdar, der uns anführt. Er redet nicht viel und es gelingt ihm ständig, unsere Fragen abzuwehren. Insgesamt machen die Guerillakämpfer in unserer Gruppe jedoch einen entspannten, die Angriff geringschätzenden Eindruck.

Der Weg zieht sich dahin. Ich bin schon einmal in Xakûrkê gewesen, aber damals war der Weg nicht so lang. Das ist die erste Veränderung, die ich wahrnehme. Es gibt inzwischen mehr Wegalternativen, die Guerilla hat für jede Situation eine Alternative. Unser Kurier wechselt ständig die Pfade und macht die Orientierung dadurch noch schwieriger. Wir laufen durch tiefe Schluchten und über erhabene Berge. Der Wasserstand ist aufgrund des Frühlings angestiegen, an einigen Stellen ist kein Durchkommen. Zwangsläufig müssen wir die Abhänge hinauf. Zu dieser Jahreszeit gibt es Rewas, die so genannte kurdische Banane, im Überfluss. Auf dem gesamten Weg essen wir uns daran satt. Überall stehen Walnussbäume, an denen sich gerade die ersten Blätter öffnen. Aus fast jedem Felsspalt sprudelt das Schmelzwasser als Symbol der Fruchtbarkeit dieser Gegend. Unser Kurier rät uns zwar ständig, nicht zu viel Wasser zu trinken, aber wir genießen es trotzdem.

Je länger wir unterwegs sind, desto mehr macht sich Müdigkeit bemerkbar. Die Füße wollen dem Kopf nicht mehr gehorchen. Wir sind alle sehr müde, aber unser Gesundheitsmitarbeiter kann schließlich gar nicht mehr laufen. Alle necken ihn als den kranken Doktor, und er läuft mit Hilfe der anderen weiter. Çekdar zeigt ständig auf eine Schlucht, die unser Ziel ist. Wenn wir dort sind, sind wir in Xakûrkê. Und dann sagt er den klassischen Satz, den alle Kuriere sagen: „Es ist nicht mehr weit.“ Alle wissen, dass es durchaus noch weit ist, trotzdem glauben wir ihm. Letztendlich kommen wir an und stoßen auf eine fantastische Aussicht. Aus der Luft gegriffen war es nicht, was Çekdar vorher über die Schlucht gesagt hatte. Sie ist wirklich wie ein Tor zu einer anderen Welt. Man blickt über alle Schönheiten Xakûrkês. Sie scheinen zum Anfassen nah. Und sie haben Anziehungskraft. Ohne weiteres Nachfragen machen wir uns auf den Weg ins Innere des Gebietes.

Als erstes begegnen uns die vom türkischen Militär abgefeuerten Mörsergranaten. Wir können nicht sehen, von wo aus und wohin sie abgeschossen werden, aber Çekdar erkennt sie an den ohrenbetäubenden Explosionen als Mörsergranaten. Nur wenig später lernen wir die Aufklärungsdrohnen kennen, die von der Guerilla als „Dosen“ bezeichnet werden. Der erfahrene Guerillakommandant unserer Gruppe liefert uns viele Erläuterungen und Ratschläge dazu. Um die Bewegungsfreiheit der Guerilla einzuschränken, sind für die türkische Armee die wirkungsvollsten Waffen Aufklärungsdrohnen. Sie dienen dazu, die Sicherheit der in Bradost stationierten Soldaten zu gewährleisten oder ihnen zumindest dieses Gefühl zu geben, wenn sie vor Angst lieber weglaufen würden. Wir treffen Vorkehrungen zu unserem Schutz und setzen unseren Weg fort. Die Guerilla hat sich merkwürdige Methoden einfallen lassen, um die Drohnen wirkungslos zu machen. Dank dieser Methoden können wir recht unbehelligt weiterlaufen.

Fast überall in Xakûrkê sind Spuren alter und neuer Kämpfe zu sehen. Meistens handelt es sich um Einschlaglöcher aus Luftangriffen. Verbrannte Bäume, zerstörte Wege und Brücken. Die von der Bevölkerung im Sommer genutzten Hochweiden sind zerschossen. Ohnehin konnten in diesem Frühling nur wenige Menschen in ihre Sommerquartiere auf den Weiden ziehen, da die Brücken zerstört sind. Die Gärten und Felder sind noch nicht bestellt. Die Dorfbewohner, deren einzige Einkommensquelle die Feld- und Viehwirtschaft ist, warten den Verlauf des Krieges ab. Die meisten werden aufgrund der Kämpfe in diesem Jahr nicht auf die Hochweiden gehen können, aber es gibt auch viele, die sich auf keinen Fall abhalten lassen wollen.

Wir treffen auf viele Guerillagruppen. Es sind Dutzende, Frauen wie Männer. Einige sind gerade erst 18 geworden, andere haben bereits den Großteil ihres Lebens bei der Guerilla verbracht. Die Jüngeren sind sehr agil. Viele von ihnen haben noch keine Kampferfahrung und bombardieren die Erfahrenen mit Fragen. Denen ist der Ernst des Krieges bewusst, aber sie vertrauen auf ihre dreißigjährige Guerillaerfahrung und bewegen sich entsprechend. Ihre einzige Sorge gilt der Dorfbevölkerung und der paradiesähnlichen Landschaft. Die türkische Armee hat sich in den Dörfern im PDK-Gebiet positioniert und zieht weiter Kräfte zusammen. Im Guerillagebiet sind geschützt von Kampfjets und Drohnen auf zwei oder drei Gipfeln Soldaten aus Hubschraubern abgeseilt worden. Die dort stationierten Soldaten befinden sich unter Kontrolle der Guerilla und können sich von den Gipfeln nicht wegbewegen. Sie sind unter ständiger Beobachtung durch die Ferngläser und Thema aller Witze, die gerissen werden. Täglich finden Angriffe auf die Gipfel statt. Allgemein wird angenommen, dass der türkischen Armee ein schwerer Schlag in diesem Gebiet versetzt werden wird. Das Gelände bietet sich für den Guerillakampf an. Die Guerilla werde hier einen ähnlichen Sieg wie im Zap erringen, sagen viele. Alle Vorbereitungen und die gesamte Motivation sind auf einen Sieg ausgerichtet. Unser erster Eindruck ist die selbstsichere Haltung der Guerilla, ihre lachenden Gesichter, ihr motiviertes Leben. Die Befürchtungen und Sorgen, die wir vorher gehabt haben, sind spurlos verschwunden.